Iwan Goll
Requiem
für die Gefallenen von Europa
Kommissionsverlag
von Rascher & Cie
Zürich - Leipzig
1917
Inhalt
Litanei, auf Wachtposten herzusagen
Ballade von einem Traum auf der Flucht
Strophe der verlassenen Frauen
zurück zu den Gedichten von Yvan (Iwan) Goll
Romaine Rolland gewidmet
Klagen will ich über den Auszug der Männer aus ihrer Zeit;
Klagen über die Frauen, deren zwitscherndes Herz nun
schreit;
Alle Klagen will ich sammeln und wiedersagen,
Wenn die Witwen unter surrender Lampe ans bedrängte
Mieder sich schlagen;
Ich höre die Kinder mit blonder Stimme vor Schlafengehn
nach dem Vatergott fragen;
Auf allen Gesimsen seh' ich Photographien mit Efeu, lächelnd
der Vergangenheit treu;
Aus allen Fenstern brennen die Blicke verlassener Mädchen
in starre Weiten;
In allen Gärten pflegt man Astern, als wäre ein Grab vorzu-
bereiten;
In allen Strassen wandern die Wagen langsamer, als wären
sie im Trauerzug;
In allen Städten schlagen die Glocken tiefer, denn immer ist
jetzt einer, den eine Kugel zur Erde schlug;
In allen Herzen ist eine Klage,
Ich höre sie lauter alle Tage.
O ihr hymnischen Menschen, Jünglinge meiner Zeit:
Warum beraubt ihr die Erde von eurer Herrlichkeit?
Lippen voll göttlicher Güte: rundet ihr euch zum Schrei?
Augen voll blauen Himmels: strahlet ihr nicht mehr frei?
Ueber Kranke gebeugt weintet ihr tagelang,
Schwachen opfertet ihr euren Ueberschwang,
Jeder in seinem Werk lebte dem andern zulieb:
Nun befehlt ihr des Hasses unnatürlichen Trieb?
O ihr denkenden Brüder! Europäischer Geist!
Schwingende! Saget, warum ihr eure Flügel zerreisst?
Schicksal stösst euch hinaus in die erbitterte Schlacht:
Aber ein ewiger Morgenstern leugnet die nächtliche Macht.
Wehender Ruf ging über Europa. Dröhnender Bass. Trun-
kener Klöppel. Heiserer Schrei.
Noch wusste die Sommerlandschaft von nichts. Die Ströme
hatten ihren gewohnten Lauf. Einäugige Dorfwirtschaften
zwinkerten in den Mond. Liebende sangen unterm Hollunder.
Aber die Hauptstädte horchen nervös. Telegramme, wie
weisse zischende Möwen, flattern Sturm. Die Fenster
des Kriegsministeriums arbeiten sich rot und heiss.
Auf dem Boulevard irrlichtern und rollen die Menschen-
köpfe. Passanten wollen mich liebend umfangen.
Restaurants summen wie gelbe Wespenschwärme.
In Nebengassen röchelt stumpf ein Mord.
Statuen recken sich steil aus den Plätzen. Bogenlampen
Explosion. Irgendwo die Marseillaise. Singende Bärte.
Glutende Augen. Munde einsam gepresst.
Und am Morgen schon wirbelten Trommeln roten Staub auf.
Trompeten stürzten in schwebende Mädchenkammern.
Europa wurde geweckt!
Aus den Bahnhöfen rangen sich wolkenhaft halloende Solda-
tenzüge; und an den Pfeilern blieben die Mütter und
Schwestern wie tausend Madonnen zurück.
Litanei, auf Wachtposten herzusagen
O Eitelkeit der Heimat,
Die unser erster Himmel umwölbte!
O Eitelkeit der Kindheit,
Mit Sternen und Narzissen bevölkert!
O Eitelkeit der Familie,
Um die die singenden Schwestern schwebten!
O Eitelkeit des Werkzeugs,
Das täglich unser Schicksal hämmerte!
O Eitelkeit des Schmucks,
Der unsre Glieder wie ein Bad umfloss!
O Eitelkeit des Weins,
Der uns zu Göttern wachsen liess!
O Eitelkeit der Krankheit und Genesung,
Die uns zu süssen Duldern milderten!
O Eitelkeit des Tanzes,
Da wurde unser Schritt Musik!
O Eitelkeit der Dichtung,
Die uns auf lichter Welle schaukelte!
O Eitelkeit des Frühlings,
Der unsre Seele aus dem Körpergrab befreite!
O Eitelkeit der Liebe,
Die uns die wächsernen Hügel gab!
O Eitelkeit des Todes,
In dem wir doch nur werden, was wir waren!
Rezitativ
Da schritten sie herrisch ins fremde Land, als gab' es weder
Nachbarschaft noch Brüderschaft noch Grenzen noch
Gesetze;
Da begehrten sie fremdes Glück und fremdes Blut und frem-
des Eigentum, als wäre die Wüste hinter ihnen, als
mahlten fremde Mühlen bessres Korn und küssten
fremde Frauen heisser;
Armeen eine jähe Ueberschwemmung sickerten in die erstarrte
Landschaft: Stadt' und Dörfer eilten in die Flucht.
Ueberall schrie Schweigen, horchte tote Oednis. In leeren
Strassen lauerten Angst und Hass.
Die Dörfer zerbröckelten unter den Keulen der Kanonen. Zu
Asche zerfielen die Blütengärten, die hellen Häuser
und die friedliche Mairie.
Die Landstrassen hasteten hinaus, hinaus. Pappeln angsthafte
Schatten stürzten unter dem Feuerhirnmel. Fackeln
geisterten zwischen wächsernen Antlitzen.
In das Loch der Nacht mündete der endlose Zug. Der schwar-
ze Hammer der Schlacht schlug den Irrenden ins müde
Gehirn.
Kinder schauten grossäugig aus der Mutter Arm hervor und
beteten das rote Wunder der Brände an. Geschütze
keuchten immer hinterher. Soldaten marschierten,
marschierten, marschierten.
Grauer Menschenschaum schwoll über die durchhallten
Felder. Dunkle Flut drängte verworren in die fahle
Nacht. Nirgends mehr ein Stern noch eine Latern'
entfacht! Nirgends ein Halt:
In die Nacht. In die Schneenacht. In die hastende, dürstende
Nacht.
In die Berge. In die Trümmerberge. In die todeskundigen
Berge.
In die Ebenen. In die verkohlten, verschreckten, versündig-
ten Ebenen.
In die Städte. In die winkligen, schreienden, geizigen, in die
unwirtlichen Igelstädte.
In die Fremde!
Aber sie hatten keine Stimme mehr zu klagen, und keine
Kraft mehr, sich an die Brust zu schlagen.
Europa schien plötzlich so eng und so klein! Jedoch ein ein-
ziges, freundliches Herz: wie musste das gross und
dankbar sein!
Ballade von einem Traum auf der Flucht
Ueber der Erde Wundmalen
Kreisten gekreuzigte Kathedralen,
Donnernde Dome und zwitschernde Kapellen,
Dunkler Glockenflügel schattende Wellen.
O so bröckelte das Gebirg eines Jahrtausends!
Wolke unsrer Flucht, trunkenes Himmelssausen,
Schwebend um unsere Schritte!
Jedes Wort gemurmelt war Gelübde und Bitte.
Aber Gott war gestürzt!
Die Blumennacht mit Phosphorduft gewürzt.
Steinerne Marien, zitternden Sohn an der Hand,
Wandelten unter uns unerkannt.
Von den grossen Kirchen der Novemberstädte
Waren die Türme geflohn, beinerne Skelette.
Zeitlos starrten die Uhren,
Blickleere Eulen in Büschen blind.
Da wehten Orgeln wie Rauschen erwachender Fluren,
Da flügelten Glocken wie Vögel im Wind:
Orgeln und Glocken goldener Hoffnung schollen,
Schwebten wie Wolken hernieder und schwollen.
Blitze leuchteten dann und wann
Wie Befreiung neuer Friedenstag:
Plötzlich aber fiel in den kurzen Bann
Mordes Mörser Donnerschlag!
Endlich platzte
Der Vulkan, sich überstürzend:
Mörsergipfel,
Tubagletscher,
Rinnende Lava,
Menschenschluchten,
Granatenkatarakte,
Trommelskelette klappernd im Takte,
Schwindender Chaos,
Zitternde Vögel,
Betende Hände,
Toter Gott.
O ein Banner die singenden Jünglinge!
Goldene Helme,
Purpurne Herzen,
Rosige Hymnen,
O ein Banner die sterbenden Engel!
Aber dahinter,
Unverrückbar,
Unerbittlich,
Starb das Erlebnis,
Starb die Menschheit langsam ab:
Nur ein Arm, ein nackter Turm,
Bebend ein Arm, ein fleischerner Arm,
O der Arm eines letzten Soldaten,
Wuchs in die Wolken,
Wuchs in den Himmel,
Wie ein schallender Schwur, und zerschmetterte
Alles, was war.
Himmlisch geboren,
Knieen sie ihren Schmerz in die Erde:
Orphisches Opfer war ihre Losung.
Güte, o Güte
Schlummert wie Schnee
Um ihre ruhig offene Lippe.
Todeslächeln tropft um ihr Wolfsherz.
Sonnige Fackel
Qualmt ihr Gesang in den freienden Wind.
O ihre Seelen,
Herbe, halbgeöffnete Knospen
Morgenschimmernden Mandelbaums,
Fallen von den gebrochenen Zweigen,
Schlagen wie Sterne
In unsre Nacht.
Da feierte der Tod seinen Karneval. Schwarze Schattenmas-
ken huschten, rotschimmernde Seelenwolken blähten
sich über dem Schlachtfeld.
Jenseits des feurigen Granatwalds bäumten sich die Men-
schenkurven. Wilde Sterne tanzten über den Kämp-
fenden.
Aus dem Gestrüpp meiner Angreifer bricht braungolden ein
Männerbart: wie gleicht er dem meines Vaters! Mann
der Erde, kommst du, mich zu töten? Dass ich nicht
lache: Maske ab! Und küss' mich!
Brandige Augen sind rings in den kupfernen Abend aufge-
lodert. Einem Apachen blitzt das spitze Bajonett blank
wie die gefletschten Zähne. Im Tod erfroren ist der
gehobene Arm, der nach mir zuckte: (doch wird er
jetzt durch alle Träume nach mir zucken!)
Auf stöhnender Brust glüht ein Medaillenstern. Ein Braut-
ring schimmert hell an verkrampftem Finger. Wieviel
Leben wird heute verschleudert! Die Gräber öffnen
sich von selber!
O mein Bruder, wie unbeholfen küssest du die Erde! Mein
guter Kamerad, dem Gold und Blut ums Helmhaupt
funkeln, reich' mir die Hand!
Warum, o leuchtender Lebensprinz, bleibst du so stumm
und strauchelst und beugst dich tief?
Ah, das war eine Maschinengewehrkugel! Dumm wie ein
Hampelmann fällt er vor mir ins fröstelnde Gras!
Mein armer Kamerad!
Kreissend in der Nacht,
Ein irrer Planet,
Trug jede von uns einmal eine Sonne aus.
Ein Lilienmorgen
Erstand in unsrem Schosse.
Aber so vogelhaft,
Steilen Flugs,
Stobt ihr Söhne aus liebender Erde empor!
Wir fielen zurück
Und kauerten klein,
Fern eurer prächtigen Uebermacht.
Immer wehte ein Wind
Von euch zu uns her.
Wir lebten von eurem Sein
Wie einst ihr von uns.
Ohne euch zu altern nun!
O wenn ihr zur Erde stürzt,
Wir fallen heulend über eure Gräber
Und scharren nach euch mit unsern Nägeln,
Bis ihr erneut wie Sonnen
Unsre Nächte durchbebt!
O roter, erster Mai! Volksfest mit Kokarden! Menschheitstag!
Blauer Boulevard des Frühlings! Karussell, auf dem
jeder für zehn Pfennige die Fahrt um den Himmel
machen konnte! Meetings, die die Rechte der Mensch-
heit statuierten!
An diesem Zukunftstag des zwanzigsten Jahrhunderts!
Da loderten die Feuerbüsche zwischen den feindlichen Ge-
schlechtern. Die eisernen Knospen sprangen. Die grü-
nen Grase der Blumenwiese keimten im Wind. Rosen
explodierten an den Batterien.
Bissigen Pflug in die Scholle führte der Kanonier. Fetter Men-
schendung füllte die Furchen. Stacheldraht umfriedete
die abgezirkelten Aecker.
O Maifest, o Frühling!
Ueber dem plattgedrückten Bergmann lasteten fünfzig Klafter
Kohleschichten. Hochofen platzte über dem braunge-
glühten Rücken des Puddlers. Brücke zitterte unter
dem Griff des Pioniers. Das Luftschiff sang wie eine
atmende Werkstatt.
O Arbeitersoldat, der Kriegsarbeit verschrieben! Du Schaffen_
der, du Hungernder, du Leidender, du Sterbender!
Du Bürger! Du Staat!
Ich sehe die Blutfahne der Revolte noch, an einen Schlot
gebunden, funkenbesternt: auf Halbmast!
Ich sehe die dunklen Züge hinter dem Schlackenberg. Die
Grimassen der Verscharrten. Den lächelnden Schmerz
der Amputierten.
Frauenschatten geistern grau in der Aureole des Himmels.
Mit heroischen Gesten fallen sie an den Horizont.
Vergebens in den Kohleschächten
Wollten die Gleichheit wir errechten.
Vergebens in den Nachtkavernen
Wollten wir Menschenwürde lernen.
Vergebens in zwielichten Schänken
Wollten wir Liebe gross verschenken.
Vergebens in Versammlungsreden
Verlangten wir das Licht für jeden.
Nun sagen sie, beim Brudermorden
Sei'n wir zu guten Bürgern worden,
Und gönnen uns den Ruhm der Narren,
Dieweil sie Massengräber scharren.
Die hundertköpfige, tausendnamige Schlacht; die vieltägige,
vielmonatige, vieljährige Schlacht; immer dieselbe
Schlacht
Rannte im europäischen Zirkus mit fieberndem Atem herum.
Ein Büffel mit feurigen Höckern, wühlte sie im Weizen der
Ebenen. Wald im Geweih. Mohn im Fellgezott. Dreck
und Wolken und Tod im grossaufstaunenden Auge.
Generäle, Toreadore, schwenkten rote Divisionen. Bunte
Schwadronen in die fliegenden Flanken gehetzt. Von
Patrouillen täglich gekitzelt.
In Flüssen schien sie zu ertrinken. An Forts sich totzuram-
men. In Morästen zu verenden.
Da trottete die Schlacht ins Hochgebirg. Mörser rülpsten.
Gletscher barsten entzwei. Schluchten brachen auf bei
ihrem Gebrüll. Gipfel, gläserne Nadeln, splitterten.
Ueber den Mitternachtspass erzwang sie das Tor des Südens.
Rollte zu Tal in Myrthenhain und Weinberg. Gären-
den Most kelterte sie aus den Herztrauben der Flie-
henden. Und schnüffelte rosiges Fleisch.
Bis zur Küste blinkte ihr harter Huf: Da lockte der Ozean.
Eine dampfende Festung quoll empor.
Dreadnoughts und Kreuzer wogten, eine Karawane schau-
kelnder Trojapferde. Unversehens durchzuckten Tor-
pedoschlangen die Wellen. Schiffe stöhnten plötzlich
auf und fielen wie Blitze in den Wald der Korallen...
Und jede Stunde starben tausend Menschen mehr.
Ueberall, ein junger Soldat, grub in die Erde seine Wunden,
als hätte er Scham, so unschön zu sterben.
Ueberall, ein junger Matros, mit einem roten Schrei im
Mund, küsste die untergehende Welt und riss sie mit
sich zum Todes grund.
Jede Stunde erlosch die Sonne tausendmal und erkaltete in
den schwarzen Herzen.
Fern in der Heimat indessen schraken Schwestern und Bräute
im Schlaf auf und hörten den Todesraben zu Häupten.
Ach, immer des Abends
Fröstelt mich so!
Da klirrst du, dunkler Krieger,
Mir aus dem Herzen entsprungen,
Sprengst Funken,
Dass die Erde erglüht!
Lächelnd,
Du mein blonder Gott,
Beugst du dich zu mir:
Wie von blonder Nacht
Fühl' ich mich umfangen!
Bist du der Pfeil,
Golden am Himmel,
Fliegst mir eine Krone ums Haupt?
Bist du der Heros?
Alle Menschen
Fahren mit dir empor,
Alle Menschen jubeln in deinem Tod:
Nur ich klein Mädchen,
Allein,
Schweigen muss ich und weinen,
Weinen allein!
Wie eine graue Wand um Europa
Lief die Lange Schlacht.
Die ewige Schlacht, die faule Schlacht, die vorbereitende
Schlacht,
Die Schlacht, die nie zur Endschlacht ward.
O Einerlei der Grabenschlacht! O Grabengrab! O Hunger-
schlaf!
Mit Kadavern gebaut die Brücken hinaus!
Mit Kadavern gepflastert die Strassen hinein!
Mit Kadavern gemörtelt die Mauern hinum!
Der Horizont starrte monatelang geheimnisvoll und verglast
wie ein Totenauge.
Die Ferne schallte jahrelang wie ein und dieselbe Totenglocke.
Die Tage glichen sich wie Totengewölbe.
O ihr Heroen!
Wimmelnd in nasser Nacht, wimmernd in harter Kälte, ihr
aus den elektrischen Städten!
Zehn Nächte Schlaf tauschte der Wachtposten gegen eine
Zigarette; die Ewigkeit verspielten ganze Regimenter
gegen zehn Meter Wüste.
Fette Flüche gespuckt in den Sternendreck. Moderkeller mit
blecherner Beute des Feindes besteckt.
O ihr griechischen Tänzer, gezwergt in lausige Kavernen!
Wie bunte Indianer aufschnellend, wenn die Sturm-
trommel ratterte:
Sah denn keiner von euch den Jesusblick des Gegners, merkte
keiner, dass der Mann da drüben ein königlich Herz
voll Liebe trug, eh er ihm das Bajonett in die Lenden
bohrte?
Glaubte keiner von euch mehr an das eigne und an der Erde
Gewissen?
Ihr Brüder, Mitmenschen! O ihr Heroen!
Wir nicht nur hinterm Stacheldraht Gefangenen,
Wir mit der Nacht des Geists Behangenen;
Wir Lichtgekrönten einst und nun Vergessenen,
Wir Ruhmesschauspiel für die Blutbesessenen;
Einst zählten wir zu den Verwegenen,
Nun stöhnen wir dem Bluthass Unterlegenen.
Einst höhnten wir die eitlen Gierigen,
Und mussten uns zur selben Gier erniedrigen.
Wir waren Richtende, richtend Vernichtende:
Heut' aber sind wir willenlos Verzichtende.
In Holzbaracken hocken wir Begrabenen;
Die Toten über uns sind die Erhabenen!
Und tief ins Mark der Länder biss sich der gehässige Krieg:
Auf männerbunte Häfen, lichtzitternde Fabriken und Werk-
stätten riesenschattete der Krieg.
Auf frischbestelltem Acker, im uralten Bergwald wirtschaftete
der Krieg.
Krieg war das Unsichtbare im Ueberall: sein Puls schlug in
den Fibern der Menschen, tönte in den Glocken der
Dörfer, rollte in den nächtlichen Gewittern.
Krieg war das Datum im Kalender und die Ziffer des Jahr-
hunderts. Krieg war der Seufzer der Armen und der
Fluch der Schwachen. Krieg war der Hunger. Krieg
war der Tod.
Krieg war Europas Aderlass. Krieg brachte die Cholera in
der Städte stumpfe Gass'. Krieg hauchte die Geister
an zu heissem Hass.
Und weil es Krieg war, stand die Sonne wie ein Rubin am
Himmel. Blut floss aus ihrem runden Aug'.
Rot waren die Hügel des Frühlings. Im Winter fiel roter
Schnee.
Blut sprang aus den Bergen in Strom und See.
Blutheisse Strahlen die Landstrassen und Boulevards.
Blutwind die Fahnen über den Plätzen, Kasernen und Bars.
Die Zeitungen mit Blut gedruckt.
Die Fernsprecher von Blutgeschrei durchzuckt.
Das Herz von Europa war gebrochen.
Das Rote Meer tanzte.
Strophe der verlassenen Frauen
Wenn die Sonn', ein rundes Laib Brot,
Ueber den goldenen Dächern hing,
Wenn Frühlingswind, ein trunkenes Boot
Mit duftenden Früchten vorüberging,
Wir pressten ein Blondköpfchen an den bitteren Mund,
Mit irrer Rede täuschten wir die zögernde Stund'.
Die Tränen im Auge waren längst verdorrt,
Den Hunger wälzten Gebete fort,
Im leeren Busen schwieg das Herz sich tot
Aber der Leib, unser Leib schrie in der Nacht so rot!
Er wogte wie Meereswelle,
Er trieb uns empor, schwoll über alles Sein:
Wir zitterten wie die Nonnen in ihrer Zelle,
Wenn stürmisch der Gott bricht über sie herein.
Träume flatterten hell an unsern Käfig und pochten:
Wir aber erdrosselten sie Tag um Tag,
Indes er draussen längst im Massengrab lag,
Um den wir den Kampf mit dem irdischen Himmel fochten!
O ihr Brüder alle! Tommies! Poilus! Bayern! Mudjiks!
Bersaglieri! Honveds! Ihr alle einmal der Boulevard,
der Festsaal, der Mob, der jauchzend ein Meer mich
Welle umrauschte!
Ihr Europäer! Antlitze von Milch und Blut! Jeder von einer
herrlichen Mutter! Ihr alle, in denen ich das Symbol
der ewigen Dinge sah: der Liebe im leuchtenden Auge,
der Güte im lächelnden Mund und der Erkenntnis in
der denkerischen Stirn!
Geschöpfe der grossen Güte, die rosig wie Sonnensplitter
mich umgabt! (Welches Gut ist edler als die Sonne?)
O und auch ihr! Meine Völker von den buntgrünen Inseln,
von spitzen Kaps, von Golfen mit prunkenden Namen,
von breiten, offenen Häfen, wo das Meer die Erde
begattet. Ihr Zouaven, Ihr grinsenden Nigger, Ihr
träumerischen Inder!
Ihr alle, von Erde und Sonne gespeist! Ihr alle, in überirdi-
scher Liebe gezeugt.
Ich glaube nicht an euren Hass! Ich glaube nicht an euren
Krieg!
Gottesvölker ihr: Dome fromm in den gefalteten Händen,
Moscheen Goldkuppeln über die Schultern gewölbt,
steinerne Synagogen in die Stirn geritzt, billig gläserne
Talismane ans Herz gepresst!
Ihr Prediger und Schullehrer und Richter und Moralisten!
Die ihr Höllen und Zuchthäuser und Guillotinen
erfandet!
Und ihr, o Bürger, altverwittertem Gesetz unterwürfig, doch
singender Freiheit so stolz, dass ihr auf einen Wink
dafür starbet!
Ihr so vom eignen Recht und Nächstenrecht Durchdrunge-
nen! Gründer der Polikliniken und Nachtasyle und
Volkstheater! Die ihr eure Häuser sorgsam bautet in
der Linie. Die ihr den Hut zogt vor jedermann, der
euch zuwinkte.
O ihr des Wertes jedes Atoms Bewusste! Und doch die
Hälfte eures fetten Lebens gabt, um einen fernen
Stern zu entdecken! Selbstmörder, Schämige, die den
Vorwurf einer geliebten Frau nicht ertrugt! O ihr sub-
tilen Seelenmenschen!
Ihr konntet nicht töten! Dir konntet nicht morden! Ich glaube
nicht an euren Hass! Ich glaube nicht an euren Krieg!
Aber, o blutige Romantiker, ihr zogt in den Tod für eine
schmucke Fahne und ein markiges Vaterlandslied!
Ihr Jahrmarktsmenschen wart trunken von der Rhetorik sadi-
stischer Ministerpräsidenten, vom Geklingel sophi-
stischer Marionetten und dem Prunk erblich belaste-
ter Fürsten!
Ihr saht die Sünder nicht unter euch, die Aussätzigen, die
Schmarotzer, die Börsenspieler, die Spekulanten!
Eure Leidenschaften waren euer Spielzeug, ihr Primitiven! In
euren Augen schillernd der grüne Zwerg Alkohol, der
rote Bazillus Liebe und der giftige Leuchtkäfer Gold!
Ihr Untertanen der Zahlen und Statistiken! Ihr Sklaven des
Wortes und der Schrift, eitle Nachahmer der alten
Weltgeschichte! (Eure Weltgeschichte war Kriegs-
und Königsgeschichte. Wer aber lehrte euch die Weltge-
schichte der Arbeit, der Barmherzigkeit, der Geistes-
pflege und der Sinnenschönheit?)
O meine Mitmenschen, nicht ihr habt getötet und gemordet:
das waren die Ahnen in eurem Blut! Das waren die
Furien eurer Erbschuld!
Eure letzte Versuchung war dieser Krieg: ein Gottesurteil.
Aber bald werdet ihr euer eigenes Urteil einem Gottesurteil
vorziehen! Ihr werdet freie Denker werden! Ihr wer-
det wissen mit eurem Geiste und wollen mit eurem
Geiste! Ihr werdet die Liebe des Herzens predigen!
Ihr werdet das Recht ans Leben für alle Völker und
Menschen verlangen!
Ihr werdet die Weltliebe lernen und die Weltliebe lehren!
Ich habe einen Freund!
Ich habe meinen Freund überall in der Welt!
Ueberall tanzende Schwestern,
Blankstirnene Brüder,
Mit glühendem Salut!
Von Grönland bis Kap Hoorn
Weiss ich meine Familie,
Und das ist ihr Zeichen:
Schlag' ich nur mit einem Worte an,
Rauscht aus rotem Mund
Sprudelnder Geist
Wie göttlicher Quell
Aus Mosis Felsen.
Sag' ich aber ein Wort der Liebe,
Da wölbt sich in lachenden Augen
Ein Doppelhimmel
Und leuchtet mich an!
Wiege und Sarg,
Kleinlicher Nachbarn
Hölzerne Heiligtümer -
Auf dem Ozean, hafenlos,
Erdenlos, himmelfremd,
Lass ich sie schwimmen!
Und doch weiss ich:
Keine Gemeinde
Gönnte mir Irrendem
Sechs Fuss Erde
Zu meiner Gruft!
Aber ich segle mit Purpurwolken
Da und dorten.
Ueberall sind Menschen,
Die meiner warten:
Eine Frau, deren Herz aufstöhnt,
Ein Chef, der meine Arbeit braucht,
Ein Kranker, den ich rette -
Ich bin ein Mensch!
Ein guter, ein schlechter,
Wie man es wolle -
Was sollt' ich nicht aller
Menschen der Welt,
Guter und Schlechter,
Bruder mich heissen?
Aber als ich euch sterben sah, Ihr Revolutionslosen, Ihr
Unlebendigen, Ihr Zukunftsblinden, Dir Enkel und
nicht Väter!
Als ich eure strahlenden Körper im rauchenden Blut verwe-
sen sah,
Da überkam mich Mitleid unermesslich! Die milden Tauben
des Roten Kreuzes umschwebten euren Schmerz.
Und da, o ihr steifen Krieger, da endlich ergabt ihr
euch!
Das war die grosse Hingabe. Hingabe an das All. Hingabe
an den Menschen. Das war eure Menschwerdung. Das
euer Auferstehn!
Ihr hörtet auf, Untertan unverstandenen Schicksals zu sein:
ihr schluchztet ins Tal demütiger Leidensmenschheit
zurück!
Offenbarung und Neugeburt, da wolkiger Himmel in Feuer-
zeichen sich auslädt, da heldischer Stolz in Tränen
sich ausströmt: Ihr Sterbenden auf dem Schlachtfeld
wäret die Offenbarung des neuen Geschlechtes!
Und ob ihr auch mit alten Götterpuppen spieltet, ihr kindi-
schen Toten: der eine das kalte Kreuz an den zittern-
den Lippen, und dieser den flatternden Himmel wie
einen Turban ums Haupt sich schlagend:
Ewiger Funke entsprühte eurem brechenden Aug', und zwi-
schen Phantomen sah ich den neuen, liebenden, lie-
besstarken Menschen wandeln.
Ihr seid die Glücklichen, ihr die Verzückten!
Süss kühlt Gesang. Ein roter Klee
Wächst aus schmerzzerschaufelter Erde,
Schaukelt um euer gefranstes Haar!
Hoffnung springt so toll wie ein Bächlein
Leicht aus eurer schluchzenden Brust.
Grösstes Erlebnis war euch das Sterben.
Sanfter Landschaft nun ruht ihr verschlungen!
Ihr Gespaltenen wart euch so fremd einst!
Springbrunnen du, mit Sternkristallen
Plätschernd und von Weltlust trunken;
Du, wie tief geduldige Kerzen,
Saugtest dein Glück aus einsamer Seele;
Du, dem Kosmos gross geöffnet,
Wie ein tausendblättriger Kirschbaum:
Ihr von fremdem Namen und Schicksal!
Grüsst euch nun mit seligem Blicke!
Wandelt, Wunsch- und Wundenlose,
In der Sonne duftender Rose!
Ach, in eures Himmels Schlichtheit
Ist's nicht schwer, sich zu versöhnen!
Dir, mit Sterngirlanden Geschmückten,
Küsst und liebt euch, ihr Verzückten!
O ihr Ewigen, ewig Beglückten!
ORGEL
Unsere Erde du, glühende Orange, von Sonne überlaufen
den ganzen Rand,
Frei schwebend unter den Sternenbildern: wir haben uns alle
zu dir bekannt!
PAUKE
Grünspan der Gewohnheit! Dunkelsinn der Dogmen! Knech-
tischer Kniefall im Väterstaube!
Endlich erlöst uns die hohe Erkenntnis! Das Wahre wird
unser einziger Glaube!
POSAUNE
Wie Apfel vom Zweige löst sich die Welt von ihrer Vergan-
genheit:
Lasst uns voll und frei erleben unsere eigne erleuchtete Zeit!
SCHOFAR
Der Jüngste Tag war täglich da! Täglich ergoss sich das ewige
Licht!
Doch blind in Erwartung harrte die Menschheit: nur an
Erfüllung glaubte sie nicht!
HARFE
Wir sind der ewige Frühling! Wir sind unser eigenes Heil!
Zeitalter der wissenden Liebe: steige aus dunklen Jahrhun-
derten steil!
ZYMBEL
Auferstehe, du denkende Zeit! Europa, friedliche Insel, blühe
Endlich aus deinem dumpfen Geschick in neue purpurne
Morgenfrühe!
ORGEL
Völker von Pol und Aequator! Menschen und Menschen,
die sich gegenseitig verneinten!
Fliesst wie Meere und Meere zusammen! Der Golfstrom der
Liebe umarmt euch Geeinten!
CHORAL DER VOLKSMENGE
REQUIEM! REQUIEM!
Ueber die blutigen Ströme sind singende Brücken gebaut:
Völker wandeln darüber und grüssen sich munter und laut!
Staub von der ganzen Erde haftet an ihren Schuhn,
Alle Sitten der Zeiten spiegelt ihr eifriges Tun.
Jeder trägt einen andern Himmel in seiner Brust,
Jeder ist seiner Einzigkeit tief und fest bewusst!
Und doch seh' ich ein Gleiches auf allen Stirnen erglüht:
Jedem gewechselten Blick entfunkt ein innig Gemüt!
Unwillkürlich suchst du, Fremder, die Liebe in mir,
Und ich öffne mein Herz, und ganz verschenk' ich es dir!
Liebe hat Menschen und Völker zum Volk der Menschheit
geschweisst!
Ueber dem Frieden der Liebe waltet der denkende Geist!
REQUIEM! REQUIEM!
BASS
Lange genug in Blut und Asche gebeugt:
Wehe nun, Wind, der neues Leben erzeugt!
ALT
Ueber glückliche Hügel stürzen Kometen:
Lasst uns zu der neuen Wahrheit beten!
SOPRAN
Lasset uns den neuen Menschen künden,
Den Bewussten seiner Trieb' und Sünden!
TENOR
Den Bewussten seiner Geistesgrösse,
Den Bewussten auch der Leibesblösse!
QUARTETT
Wie über dunkle Erde die weissen Lilien sich neigen,
Lasst aus blutigen Gräbern die heiligen Menschen steigen!
GLOCKE
In coelo Lux!
In mundo Pax!
QUARTETT
Lasst den Oelbaum aus den Trümmern blühen,
Lasst ein Nordlicht unsre Nacht umglühen!
ORGEL
Unsere Erde du, singende Stimme im nächtlichen Chor:
Wir Menschen hören dich alle, wir singen dich höher empor!
SCHLUSSCHOR
Lichtkorallen am Mund, im Auge Sternenfeuer:
Dem Martyrium entstiegen wir ungeheuer.
Aus ekstatischer Schmerzen gärendem Dunkel
Stoben wir empor in goldnes Gefunkel.
Wir Gebornen in der Nacht der Erden
Wollen nun zu grossen Sehern werden!
Herzen, Hände flammen uns entgegen,
Sterntrophäen über allen Wegen!
Rollen hören wir die Ozeane,
O wir Sieger, wir Gott Aufgetane!
Wolken, feurige, herniederbrausen,
Wir sind tausend, wir sind hunderttausend!
Wir sind die Erkorenen, Befreiten,
Die auf Erden Gottes Reich bereiten!