Gedichte 1930

Gedichte

1930

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Die Räuber

Ein Winterabend

Die Angst

Großstadtfrühling

Osterheimfahrt zu Leni

Die Fremde

Wieder mal auf eine Gymnasiastin scharf

Das Krankenhaus-Gedicht

Eines Sohnes Spruch

Verspätetes Liebeslied

Das unheimliche Gehöft

Trübe Ahnung

Der Mond und das Mädchen

Ballade von den Huren, die morgens übrig blieben

Erinnerung an den Toten

Geschenk des Sommers

Blasphemische Ode eines alten Mannes

Bekehrung zur Stadt

Wo finde ich das Glück?

Eifersüchtige Klage eines Abreisenden

Herbstliche Trauer

Eine Bergnacht

Souvenir de Paris

Strophen vom Herbst

Letzter warmer Tag im Tiergarten

Seltsame Unruhe

Absage

Gastwirtstochter

Der Unverbesserliche

Lange Litanei von der Versäumnis

Abenteuer im Alltag

Es duftet weihnachtlich der Korridor

Ich weine um dich

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16. 01. 1930

Die Räuber

Die Nacht beginnt. Die Schwester quirlt die Suppe.
Der Mond ist tot, und günstig weht der Wind.
Aufbricht zum großen Fang die Räubertruppe;
die Mutter mahnt: »Erkält dich nicht, mein Kind!«
Schon ist ihr Wort am Jüngsten abgeglitten,
doch denkt er immer an das weiße Haar.
Stumm sind sie durch die stumme Stadt geschritten,
in einem Hausflur lehnt ein Liebespaar,
die Katze überm Weg kann Unglück bringen,
der Trunkne nicht, der mit dem Schatten spricht.
Man wird sich über eine Böschung schwingen
und fürchtet im Kanal die Ratten nicht.
Jetzt müssen wir den schmalen Schacht durchkriechen,
die Kähne schlafen über unsrer Not.
Mein Bruder träumt vom willigen Mariechen
und vom gedeckten Tisch mit Schnaps und Brot.
Der Alte wünscht, daß ohne Blutvergießen
das Wagnis glückt. Es riecht nach Lehm und Gas.
Dicht neben sich weiß man die Wellen fließen
und wittert Salzluft, Möwen, Dünengras.
Man taucht empor und steigt wie aus dem Grabe
in eines Kellers Leichenkammerpest.
Einzig Vertrautes ist die Küchenschabe,
die man, Gott zu versöhnen, leben läßt,
wie hier und dort an dem Gewölb die Spinnen.
Dann macht man übers harte Werk sich her.
Brecheisen krachen leis. Die Schläferinnen
im Hause atmen unwillkürlich schwer.
Sie träumen vom erregend kühnen Raube,
der nüchterner in ihrer Näh' gelingt.
Unkenntlich jetzt in schwarzer Autohaube
der Jüngste ans Gefährt die Beute bringt.
Die Luke schließt sich wieder in der Mauer.
Trat nicht der Mond sofort an seinen Platz?
Man liegt noch eine Weile auf der Lauer,
bis ohne Fährnis man entführt den Schatz.
Nun wäre Trumpf das Fluchen einer Hure,
die Katze wünscht man wieder auf den Gang,
das Liebespaar, gottlob, lehnt noch im Flure,
der Trunkne schnarcht auf einer Uferbank.
Ein Glucksen: schwang sich einer mit der Wunde,
der keine Hoffnung sah, in den Kanal?
Die Kähne schlafen, auch an Deck die Hunde.
Glückauf den Ratten zu dem fetten Mahl,
gefräßig mögen sie im Schacht sich tummeln.
Wir scheuen nicht mehr das Laternenlicht,
wir können durch die Nacht geruhig bummeln
und jedem Spiegel zeigen das Gesicht.
Es floß kein Blut, ganz rein ist das Gewissen,
rein war die Luft, rein ist und bleibt die Luft!
Vielleicht erlebt nach allen Düsternissen
man wirklich Möwen jetzt und Meeresduft.
Man taucht empor und steigt wie aus dem Grabe.
Man geht sehr sicher, pfiff sich gern ein Lied
und stieße auf das Pflaster mit dem Stabe
wie einer, der als Sieger heimwärts zieht.
Fast möchten ehrlich wir von vorn beginnen
mit neuem Leben. Ob die Beute reicht?
In Pfützen kracht das Eis. Die Schläferinnen
im Hause atmen unwillkürlich leicht.
Die Mutter läßt uns ein. Zufrieden kriechen
wir unterm Vorhang in das Lampenrot.
Mein Bruder mit dem willigen Mariechen
sitzt am gedeckten Tisch bei Schnaps und Brot.
Harmlos erholt sich die Familiengruppe,
es ist vollbracht, wir werden wieder Kind.
Man löffelt friedlich seine Morgensuppe.
Und draußen weht ein töricht wilder Wind.


11. 02. 1930

Ein Winterabend

Ein Winterabend. Nur die Lampe grünt.
Und auf dem weißen Acker des Papiers
blühn Verse. Hab ich meine Schuld gesühnt?
Mich tröstet jetzt die Labsal dunklen Bieres.
Ist draußen alle Welt von Schnee bedeckt,
daß auch kein Kreuz aus dem Nirwana ragt?
Die Zigarette hat mir gut geschmeckt,
und zu mir selber hab ich »Freund!« gesagt.
Ich kenne keinen bessern: alles trog,
nur
meine Treue war mir stets gewiß,
und wenn ich trunken nachts nach Hause zog,
war sie der Stern in wüster Finsternis,
und morgens Trost an meinem Frühstückstisch.
Ich streichle meine Hand und meine Wange.
Ich ging sehr spät zu Bett und bin nicht frisch.
Mir ist vor jedem neuen Tage bange.
Ich wandle durch den winterlichen Park.
Ich bin noch müd und höre doch den Ton,
die erste Melodie, ganz voll und stark,
der jungen, unverhofften Dichtung schon.
Die Kinder wagen sich aufs dünne Eis,
am Ufer steht die Mutter wie ein Huhn.
Die Spatzen sagen sich, was ich nicht weiß,
und die Natur scheint schadenfroh zu ruhn.
Ein Schneeglöckchen hat sich zu sein erkühnt -
wie rührend ist sein winzges Weiß verfrüht!
Ein Winterabend. Nur die Lampe grünt.
Und Lied und Leben hat umsonst geblüht.


27. 02. 1930

Die Angst

Steht hinter mir schon einer wie ein Wärter,
mich hilflos Schreienden davonzuschleppen
durch lange Gänge über viele Treppen,
und seine Hände werden immer härter,
und endlich sind wir in dem grellen Zimmer,
wo er mich auf die blutige Tafel bindet,
und während mir schon die Besinnung schwindet,
hör ich durch alle Wände das Gewimmer
der Menschenopfer, die hier vor mir litten,
es würgt mich grausam in das Nichts hinunter.
Der Arzt und seine Helfer plaudern munter,
und als ein Schaustück wird mein Leib zerschnitten
und noch einmal geflickt zu schäbigem Reste.
Wild klagt das Lied der Leiden durch die Wände.
Befriedigt wäscht der Schlächter sich die Hände,
schlüpft in den Frack und fährt zu einem Feste.
Das Lied der Leiden nimmt auch meine Schreie,
die mich noch einmal in das Dasein quälen
in sein Fortissimo. Die Schwestern zählen
fühllos den Puls und sehnen sich ins Freie.
Die tote Mutter kann mich nicht mehr pflegen.
Mein Hund auch mußte einsam einst verrecken.
Hier spielt das Sterben wüst mit mir Verstecken,
dort prahlt das Leben auf den Sommerwegen,
alles, was ich verlor, was ich versäumte,
ich schrei nach ihm, ich kann es nicht erreichen,
auf Bänken, in den Booten auf den Teichen
bäumt Liebe sich, wie hier mein Herz sich bäumte
im Todeskampf, um gräßlich zu erstarren.
Dies Bündel Trümmer wird der Wärter schleppen
durch lange Gänge über viele Treppen,
es mit dem andern Unrat einzuscharren.


21. 03. 1930

Großstadtfrühling

Dies ist die Zeit, da wir Schneeglöckchen suchten
auf Heimatwiesen kindlich hingekniet.
Sanft rann der Bach, in seinen stillen Buchten
sang schon das Schilf sich leis ein Frühlingslied.
Zwar war noch Weiß auf des Gebirges Kamme
und mit dem Wind noch Winterliches nah.
Doch machte schon der Sonne starke Flamme,
daß man den Sommer langsam nahen sah.
Und ob Eisschollen auf dem Fluß auch trieben,
ob noch der Knecht die warme Mütze trug:
es lag doch in der Luft, die Welt zu lieben,
und unsre Küsse waren Lenz genug.
Dies ist die Zeit, die wir so hold erlebten
und die uns allzu rasch zu Staub verflog.
Statt Lämmerwölkchen, die einst lenzhaft schwebten,
ein Werbeluftschiff jetzt am Himmel zog.
Hier spürst du nicht der Erde neues Duften,
das Werdende, den zarten Übergang -
hier, wo die Stunden steingebunden schuften,
bleibt ausgesperrt des Anbruchs Überschwang.
Hier kann ich Frühling nicht, nicht Herbst belauschen,
nur Krasses gilt: des Sommers böse Glut,
des Winters Haft. Die Lebensströme rauschen
nicht durch der Großstadt immer starres Blut.
Schneeglöckchen magst du dir beim Händler kaufen,
das Frühlingslied hörst du im Rundfunk nur.
Du darfst im Käfig der Promenade laufen
wie ein gefangnes Tier die kurze Spur.
Und unsre Küsse, wo sind sie geblieben?
Wo blieb der Blick auf des Gebirges Rund?
Uns läßt die Großstadt keine Zeit zum Lieben.
Das Herz ahnt Frühling. Doch es schweigt der Mund.


19. 04. 1930

Osterheimfahrt zu Leni

Nun endlich in der Osternacht
bin ich zu dir zurückgebracht,
aus kalten Stuben fremder Stadt,
wo nichts ein gutes Zeichen hat,
von fremder Glocken Festgeläut,
in denen nichts auf Gott sich freut,
aus leeren Straßen, wo der Wind
auf Arme jagt und Regen rinnt,
von Sonntagssofas, alt und krank,
wo nie der Traum von dir gelang.
Wohl waren Menschen zu mir gut,
trieb manche Stunde Übermut,
schien ein Versprechen mir auch dort
aus manchem Blick und manchem Wort.
Und tanzte ich auch im Bordell
mit einem wüsten Weibsgestell,
trank Flaschenbier mit der Madame -
im Herzen war ich Osterlamm,
von dir entfernt ganz ohne Glück,
und wollte bloß zu dir zurück,
ersehnte mir den schnellsten Zug,
der mich in deine Arme trug.
Die Räder sangen nur von dir,
die Bäume standen weiß Spalier
und gaben sanft mir das Geleit
zu deiner Oster-Zärtlichkeit.


Ende 04. / Anfang 05. 1930

Die Fremde

Dort froren meine Sommerstrophen,
der Liebe Laubdach war verwelkt.
Der Sturm durchtobte meinen Ofen,
die Kälte hat im Bett geschwelgt,
in meinem Bett! Am Fenster blühten
Eisblumen, nah dem Monat Mai.
Und alle guten Geister mühten
umsonst sich, daß ich glücklich sei.
Die Gassen waren Regenläufe,
der Frühling fehlte überall;
die Wollust machte ihre Käufe
in einem öden Winterstall.
Mit Elend Mißbrauch trieb das Wunder
im jämmerlichen Zirkuszelt.
Die Jahrmarktbuden gaben Plunder
den Armen für ihr Mühsalgeld.
Es glich dem blinden Grubengaule
im Hurenhaus die Pförtnermagd.
Mit bösem Blick und wüstem Maule
ging Hunger immer auf die Jagd,
daß Warten auf die Schöpfergnade
nur Müßiggang und Schlimmres hieß.
Dort führten keine Heimatpfade
bedächtig mich zum Paradies,
auch harrte es nicht vor den Toren.
Blind ward mein Blick, mein Ohr ward taub,
und meine Sommerstrophen froren.
Zertreten lag der Liebe Laub.


03. 05. 1930

Wieder mal auf eine Gymnasiastin scharf

Du Gymnasiastin mit der roten Kappe,
Schutzengel am belebten Straßendamm,
als deren Schatten ich hinübertrappe
durch Autos, Pferde, Fluchen, Pfützenschlamm,
in deinem Bann jetzt durch den Park getrieben -
da hältst du plötzlich neben einem Nichts:
ich sehe, deine Märchenaugen lieben
die Pickel seines dummen Schulgesichts.
Er ist wahrscheinlich in der gleichen Klasse,
er spricht, was dich enttäuscht, was du verstehst,
von Schularbeiten, Kino, Sport. Ich hasse
den Knaben, weil vertraut du mit ihm gehst.
Sein unverdientes Glück ist mir zuwider.
Kein Trost, daß er es nicht zu schätzen weiß.
Ich schriebe dir die schönsten Liebeslieder
und gäbe einer Gans mein Bestes preis,
nur hoffnungslos mit dir zu promenieren,
ein Partner, der dir nichts zu sagen hat.
Ich möchte euch dem Lehrer denunzieren,
ich wüte, wäre gern an eurer Statt.
Es reizt mich, mit dem Bengel mich zu prügeln,
obwohl ich weiß, ich machte kläglich schlapp.
Doch würd' ich ihn in Griechisch überflügeln;
er bliebe sitzen, ging zur Reichswehr ab.
Dir aber löst' ich alle Schulaufgaben,
in jedem Fach bekämst du eine Eins,
kein Dankwort brauchtest du dafür zu haben,
ich war der Schutzgott deiner Stelldicheins,
die Ausrede für deine Abenteuer,
der Vorwand für Theater, Boxer, Tanz.
Der Ungetreuen bliebe ich ein treuer,
verliebter Onkel - süße, blöde Gans!
Du merktest nichts von meinen stummen Leiden,
ich war ein Narr, den man gut brauchen kann.
Ich dürfte mich an deiner Sehnsucht weiden
nach einem andern, mir verhaßten Mann!
Nur daß er jetzt kein dummer Bub mehr wäre,
vielleicht sein Bruder, technischer Student,
Revuestar, Held manch brenzlicher Affäre.
Du wärst ihm nur ein Lustexperiment;
er ließe dich zurück in tausend Nöten,
da fände ich dich wieder, schwanger, krank,
verzweifelnd an der Welt: Du willst dich töten,
nachts, obdachlos auf der Promnadenbank.
Da endlich dürft' ich dich zu mir geleiten,
dich trösten, wahrer Greisengüte voll,
und würde unsre Hochzeit vorbereiten,
die keine Pflicht von dir verlangen soll.

So träum' ich mir Etappe um Etappe
kitschigen Dramas im Magnesiumglanz,
wird eine Schülerin mit roter Kappe
Engel des Spiels
                           und bleibt doch blöde Gans!


08. 05. 1930

Das Krankenhaus-Gedicht

O Labyrinth voll Seufzer und voll Stöhnen,
farbloser Pflege stetes Einerlei!
Das Auge kann sich kaum ans Grau gewöhnen,
das Ohr nicht an der Leiden Litanei.
Inmitten einer Welt leichtfertger Freuden
dies Haus, gebaut aus Angst und Schmerzen, droht.
Wenn Tag und Nacht sich sinnlos sonst vergeuden,
ringt jeder Hauch um Sein hier oder Tod.
Der Mörder ist vor jeder Tür zu ahnen.
Tritt er im nächsten Augenblick herein?
Der Abend hängt ans Fenster Trauerfahnen.
Am Giebel reglos steht der Feind aus Stein.
Ein Blitz zeigt seine grausam harten Züge,
als ob er meine Furcht dem Würger wies.
Auch wenn ich ihn mir starr und machtlos lüge
oder zum Führer in das Paradies:
mein bessres Wissen wittert die Gefahren,
den Dunklen, dem noch nie ein Mensch entrann.
Die Leichenkammer holt auf ihre Bahren
das schönste Mädchen und den stärksten Mann,
um wieviel rascher mich, den Ungeschützten,
weil Ungeliebten, den kein Arm mehr hält
und der mit allen seinen ungenützten
Glücksstunden in das kalte Nichts nun fällt.
Es klopft mein Herz, es wird ein Sarg genagelt.
Draußen im Teich sind wieder Enten jung.
Dann Sommer, wo es an die Scheiben hagelt,
und Herbst und Winter, nur Erinnerung.
Zuletzt auch das nicht mehr. Gelöscht die Lichter.
Die bittre Pein des Scheidens ist vorbei.
Ich seh nicht mehr in andre Angstgesichter, ich
höre nicht der Leiden Litanei.


13. 05. 1930

Eines Sohnes Spruch

Die stets vor mir geheim gehaltne Pforte
zuletzt erbrechen, um zurückzukehren
ins Labyrinth des Blutes. Vaterworte
sollen mir meine Heimat nicht mehr wehren.
Darf ich mich rächen fürs Geboren wer den
und Angst und Schmerz wie beim Beginn bereiten
Ich will mit kindlich schüchternen Gebärden
zurück zu meinem dunklen Ursprung gleiten.
Dort laß mich ruhn, weich von dir umschlossen,
laß unsre Lebensströme still sich mischen.
Mit ihnen sind Jahrtausende verflossen,
nun wird kein Lästermund »Blutschande« zischen.
Du nimmst zurück, was du der Welt gegeben;
und wieder sind wir eins, nicht mehr zu trennen.
Dies wird nicht mehr zum Fluch: ein neues Leben,
sondern zur Lust, in der wir uns erkennen.
Bis wir zuletzt im Element, dem feuchten,
wie vor dem Sein umarmt, ins Nichts verrinnen,
und endlich unsre Sterne nicht mehr leuchten
und keine Menschenwelten mehr beginnen.


16. 05. 1930

Verspätetes Liebeslied

Das Gedicht, das ich dir schulde, da ich unser Fest vergaß,
weil ich als versunkner Dulder in der eignen Trauer saß
eingeschlossen wie im Kerker, immer mein Versagen trank,
bittre Nahrung meines Werkes, auf der harten Klagebank,
sollst du nun nicht mehr entbehren. Heute hol ich alles nach!
Auf die Stimme will ich hören, die von dir so zärtlich sprach.
Daß ich immer dich enttäuschte, immer hast du mein geharrt,
immer war in fremde Räusche meine Sehnsuchtspein
          vernarrt,
immer sah ich andre Bilder, nicht dein liebendes Gesicht,
aus dir feindlichen Gefilden pflückt ich oft mir mein Gedicht.

Dies hier endlich blüht im Garten, der uns beiden
          Frühling bringt.
Heut bin ich es, welcher wartet, bis dein Lied von draußen
          klingt,
und ich eile, dich zu grüßen, dir zu reichen Strauß und Wein.
Überflammt von Hochzeitsküssen, wolln wir eine Glut
          nur sein.
Draußen mag der Regen rinnen, Einsamkeit uns neidisch
          drohn,
Nachtwind Winter neu beginnen, Stadt als Totenfackel lohn,
blutrot sich der Himmel bauschen über allem Untergang -
im Gehäus wir zwei belauschen unsrer Herzen Überschwang,
den Gesang, den hingegeben einer für den andern sprach,
das Gedicht von unserm Leben. Heute hol ich alles nach.


22. 05. 1930

Das unheimliche Gehöft

Sein Acker trug ein unbekanntes Kraut,
das seltsam duftete. Es warf die Kuh
ein Kalb mit einem Doppelhaupt. Die Braut
fand einen Dorn in ihrem Hochzeitsschuh.

Unnahbar blieb des Bauern Angesicht,
als wäre alles nur nach Fug und Recht;
nachts tat er schweigend seine Gattenpflicht,
tags schritt er schweigend hinterm Pflug als Knecht.

Doch nichts gedieh. Es fiel sein bestes Pferd.
Die Wiese ward vom Regenstrom ertränkt.
Die junge Frau saß fremd und welk am Herd.
Der Erbe wurde ihnen nie geschenkt.

Die Saat verkam. Er schwieg. Das Herz erfror.
Am Abendtische ging das Grauen um.
Und bellten Hunde hinter jedem Tor,
in seinem Hof blieb es unheimlich stumm.

Es überwuchs die Fenster Teufelskraut,
verloren lag das Gut in Kirchhofsruh.
Im Nachbargarten waren Kinder laut
und warfen spielend sich den Weltball zu.


23. 05. 1930

Trübe Ahnung

Verlaßner werde ich mit jedem Jahr,
und nun verlor ich auch mein bestes Lied. -
Ich saß bei einem Cognac an der Bar
so düster, daß mich jedes Mädchen mied.

Dann ging ich durch die Stadt. Die Nacht war mild.
Es war, als ob mein Vater mit mir sprach.
Jetzt hock ich trostlos unter deinem Bild
und traure dem versäumten Leben nach.

Da war ein Fest.. . ein Kleid im Wind .. . ein Wink . . .
und immer eine Schwermut, die uns schied,
zuletzt nur wieder dies: »Vergiß und trink!«
Und nun verlor ich auch mein bestes Lied.

Ward doch mir Liebeslust noch prophezeit,
und daß die Schicksalswege sich erneun -
zu spät erblühte diese Glücklichkeit
und könnte meinen Herbst nicht mehr erfreun.

Denn herbstlich geh ich mitten durch den Mai,
der als ein Spuk an mir vorüberzieht,
als wisse er, daß dies der letzte sei.
Verloren ist mein Leben und mein Lied.


27. 05. 1930

Der Mond und das Mädchen

Schwül ist die Nacht. Weil es nicht schlafen kann,
im Hemd am Fenster sitzt das Kind und sieht
hart unterm Dache einen nackten Mann,
und groß im Mondlicht schimmernd droht sein Glied.

Voll Todesangst hat sich das Kind geduckt
und unwillkürlich sich noch mehr entblößt.
Es glaubt zu spüren, wie die Rute zuckt
und grausam in die zarte Blüte stößt.

Es fühlt entsetzt, sie öffnet sich im Traum
und kann nicht hindern, daß sie ihn empfängt.
Es regnet Sterne aus dem Himmelsraum,
des Mondes Glut hat ihren Schoß versengt.

Zerfetzt entglitt das Hemd. Sie wirft sich nackt
am ganzen Leib gebrannt zur kalten Wand.
Wie ist die Mutter fremd! Gelassen packt
mit süßer Strenge sie des Vaters Hand.

War er es, den sie über sich jetzt sah
im Mondlicht leuchtend wie ein Rachegott?
Reißt sie zum Himmel, was ihr jetzt geschah,
oder in wüster Höllen Teufelsspott?

Es gellt vom Dache einer Katze Schrei.
Die Jungfrau flieht zum Bett, als galt es ihr.
Da sieht sie an der Wand als Schatten: Zwei
umarmen sich in böser Elterngier.

So bald ist ihr der Liebste nicht mehr treu!
Das Mädchen weint in Schlaf sich hoffnungslos.
Und oben wieder reckt unsterblich neu
der Mond sein Horn empor zum nächtgen Schoß.

Dann kommt der Tag. Es ist der Morgenwind
dem jungen Gras und allen Knospen gut.
Mit fraulich dunklen Augen sieht das Kind
seltsam erschauernd auf dem Tuch sein Blut.


27. 06. 1930

Ballade von den Huren, die morgens übrig blieben

Ihr süßen Säue auf dem Morgenstrich,
noch immer unermüdlich, geil wie ich,
im Kasten prangt das Bild des Regisseurs,
Filmhuren machen kitschig die Honneurs -
wie seid ihr ehrlicher als dies Geschmeiß:
ihr wackelt mit dem Busen und dem Steiß
und stellt euch ohne Kunst in Positur,
ihr süßen Säue auf der Morgentour.

Ihr herben Säue von der letzten Schicht,
gespenstisch seht ihr aus im ersten Licht.
Ein Sipo sickert durch das Morgengraun,
die Stühle vor den Bars ein Grabmal baun,
und wie Hyänen jagt ihr auf den Mann,
der schwer bezecht euch kaum entkommen kann;
auch ihr seid wählerisch und nüchtern nicht,
ihr herben Säue von der letzten Schicht.

Ihr armen Säue, schaler Rest der Nacht,
von jedem satten Marktweib ausgelacht,
das schon verdreckt und forsch zur Halle karrt
und zäher dort als ihr sich Groschen scharrt.
Von jedem Frechling spaßhaft angefaßt,
ihr hofft ja noch, er sei der Liebesgast,
und ward zuletzt noch um die Zeit gebracht,
ihr armen Säue, schaler Rest der Nacht.

Ihr irren Säue, hin und her gehetzt,
verstört, bereit zum Äußersten schon jetzt,
die zwischen einem Abend, der nicht galt,
und zweifelhaftem Tag rasch welk und alt,
ums Brot geprellt, ihr nun verzweifelt dreist
den Obdachlosen noch am Rocke reißt,
und tut's für Wurst und Bier im Torweg jetzt,
ihr irren Säue, hin und her gehetzt!

Ihr dummen Säue habt mit Schweinsgeduld
allein an eurem Schweineleben schuld:
zur Ehefrau, zum Luder langt es nicht,
so seid ihr preisgegeben jedem Wicht,
der aus dem Puff zur Morgenandacht schwankt,
umsonst und bloß aus Jux ans Loch euch langt,
nur euer Dichter denkt an seinem Pult
noch an euch Säue mit der Schweinsgeduld.

Ihm auf dem Heimweg bleibt ihr Frühgeleit,
er freut sich über eure Zärtlichkeit,
die sehr berechnend seinen Buckel streift
und ihm mit Zoten an die Hoden greift,
er segnet eure Dummheit, euren Wahn,
sein Leben ist wie eures arm, vertan,
schamlos zu jeder Schäbigkeit bereit,
ihr Säue, eines Dichters Frühgeleit!


17. 07. 1930

Erinnerung an den Toten

Erinnerung an den Toten überkam
mich mitten in dem Glück des Sommertages,
und tief betroffen ward ich mir voll Scham
der Schuld bewußt des lustigen Gelages.

Der Schuld, daß ich noch schwärmte, spielte, trank,
vor Schenken saß und über Witze lachte,
mir gütlich tat im Park auf einer Bank
und immer wieder an Verliebtes dachte.

Der Schuld, daß ohne Ernst ich mich verlor;
der großen Schuld, daß ich noch immer lebte
und nie das hielt, was ich mir selber schwor,
so feig an meinem nichtgen Dasein klebte.

Rechtfertigt doch kein Werk mein träges Schaun;
schmarotzerisch zehr ich von fremden Früchten:
ich bin der Ausgehaltne schöner Fraun
und noch im Traum zerquält von trüben Süchten.

Bös, unverbesserlich faul ich dahin,
werd mich in schwüler Nacht zum Fenster neigen:
schon stürze ich auf den Asphalt und bin
ein Nichts. Aus dem Cafe hohnschluchzen Geigen.

War ich der Tote nur im Melodram?
Und vor dem Letzten rief ein Feind: »Nun wag es?
Erinnerung an den Toten überkam
mich mitten in dem Glück des Sommertages.


05. 08. 1930

Geschenk des Sommers

Berge schenktest du, Wege am Abendhang,
Felsen, Quellen, Gestein. In der Wälder Wehn
Seen senktest du, wo die Welle sang
von der Welten Sein und Vergehn.
Ob auch Regen fiel, auf der Bank vor dem Haus
hielt uns die Sommernacht warm an der Brust.
Nebenan Kegelspiel, Bauerntheater, Applaus,
und ein Lied lacht Liebeslust.
In der Schattenschlucht kam aus deinem Mund
einer Stimme Klang, fremd und unbekannt,
die den Gatten sucht. Ein verlorner Hund
auf dem Weg am Hang witternd stand.
Doch am Schenkentisch endlich eingekehrt
mit Behagen trank ich mein Abendbier,
aß den Renkenfisch; kindlich unbeschwert
sprach mein Magen Dank allem Heut und Hier.
Morgens neuer Schnee von der Gipfel Kranz
Wintermärchen wob in das Sommergrün.
Nächtlich duftet Klee unterm Himmelsglanz
und der Bergzyklop läßt sein Einaug glühn.
Auch ein Schlänglein glitt, als ich einsam ging,
voller Sehnsucht war, und es fiel ein Stern.
Ob das Englein litt, das im Gitter hing
an dem Felsaltar menschenfern?
Aus dem Wiesenmeer zirpt der Grillenchor,
mit mir wandert sacht mein Gedicht.
Winde bliesen leer vom Gewölk das Moor,
ihre Weltenwacht schlummert nicht.
Raunend gehen sie um der Dörfer Ruh
und mit ihnen irrt, wem kein Schlaf gelingt;
staunend stehen sie, wo im Stall die Kuh
mit der Kette klirrt und die Glocke klingt.
Waren wir verirrt an des Waldes Saum,
sicheren Gesangs fanden wir zurück.
Lächelnd stand der Wirt, Mondbild überm Schaum
unsers Schlummertranks, müdes Glück.
Durstge tränktest du. Gott war im Bier und im Brot.
Einsam blieb niemand allein. Alm und Schnapsglas war eins.
Berge schenktest du, Wege im Abendrot,
Andacht vor Heuduft und Stein, Freude des Seins.


12. 08. 1930

Blasphemische Ode eines alten Mannes

Wenn ich auf ersteh, nach meinem Tode,
wirst du mit mir auferstehn, mein Schwanz,
der heut nicht mehr steht? Du schlaffe Hode,
wirst du wieder prahlen, prall und ganz?

Wird der Kitzel wieder euch durchbluten,
glüht ihr dann im Paradiesesglanz?
Glückt der Ritt auf den Erzengelstuten
dir in Ewigkeit, geliebter Schwanz?

Wird der Herrgott Flügel dir gewähren,
daß du nachholst den versäumten Tanz?
Wird Maria noch einmal gebären
ihren Heilandsohn von dir, mein Schwanz?

Petrus, der Verschnittne, mag dich schmähen,
aber Magdalena bringt den Kranz.
Wird der Hahn zum dritten Male krähen,
wenn man dich verrät, geliebter Schwanz?

Nein, du wirst nicht mehr ans Kreuz geschlagen,
prangst als Turm im himmlischen Byzanz!
Stolz darfst du dein Köpfchen höher tragen,
und Gott selber sagt: »Mein lieber Schwanz!«


13. 08. 1930

Bekehrung zur Stadt

Bist du in einem Dorf allein,
so glückt es nur bei Sonnenschein.
Wenn abends aber Regen rinnt,
fühlst du dich hilflos wie ein Kind.
Die Schenken schließen schon um Neun,
da muß auch dich dein Wachsein reun,
du kriechst verstört in dein Logis,
natürlich grade nah dem Vieh,
das unter dir im Stalle stöhnt.
Die Leselampe ist verpönt,
weil auf dem Boden Heu und Stroh
gleich brennen könnten lichterloh.
Voll Wut liegst du im Dunkel wach:
der Wind zerrt klappernd an dem Dach,
und immerzu ein Köter heult,
als wäre er wie du zerbeult
vom Grauen dieser öden Nacht
und ihrer blöden Niedertracht.
Insekten rascheln . . . Wasser tropft. ..
ein Unding an den Läden klopft,
der Irrsinn hat dein Bett umstellt:
und du bist jenseits aller Welt.
Dir kommen alle Sünden bei.
Die Turmuhr schlägt gehässig zwei:
jetzt kreist wie immer in der Bar
vergnügt zur Jazzband Paar an Paar.
Wie dankbar war man jedem Spaß,
und wo man sonst mißmutig saß,
weil der gewollte Witz verdroß,
wärst gern du wieder Zechgenoß,
ja, selbst lieblosem Gassenschank
war nun gewiß dein heißer Dank,
weil jeder Platz dir besser scheint
als dieser, der - ein stummer Feind -
dich in schlafloses Dämmern zwingt
und um die schönsten Stunden bringt.
Längst ist in dir der Zorn ganz groß,
dich tröstet auch kein Mädchenschoß,
natürlich schläfst du nie mehr ein,
du fluchst auf das Genügsamsein,
zählst bitter jeden Stundenschlag . . .
Und endlich kommt der neue Tag!
Die Vögel zwitschern wie verrückt,
daß wieder dir kein Schlummer glückt,
schon ziehn die Herden läutend aus,
die Türen krachen in dem Haus,
die Kirchenglocke bimmelt schrill,
als ob sie dich hochpeitschen will
vom ohnehin fragwürdgen Bett,
und überall rauscht ein Klosett,
daß du dich für besiegt erklärst
und mit dem nächsten Zug heimfährst,
zur großen Stadt und ihrer Hast,
die du sonst gern gescholten hast,
zu ihren Nächten, lustdurchweht,
der Frühe, die den Schlaf versteht,
die jeden, der es will, versteckt,
wo weder Nacht noch Regen schreckt.
Bist du in ihr auch ganz allein,
so wirst du doch nie einsam sein.


22. 08. 1930

Wo finde ich das Glück?

Wo finde ich das Glück für dich, für mich,
und wo den Frieden, der uns beide schützt?
Einst ging ich abseits und litt fürchterlich
und habe niemandem damit genützt.
Du gabst mir, was die Gnade geben kann,
und ich nahm immer nur, und nahm und nahm
und blieb der tatenlose Bettelmann.
Im Traume bin ich wild, im Leben zahm.
Wie war mein Mund dem deinen einst vertraut,
Geschwisterpaar, das unter Sternen spielt!
Noch immer glüht dein Kuß auf meiner Haut,
doch niemand ahnt, wie gerne ich dich hielt.
Es tragen dich die Sommerwinde fort,
Mohnblüte, heimatlos durch meine Schuld.
Die Sehnsucht schwebt dir nach von Ort zu Ort.
ich warte deiner Heimkehr in Geduld.
Ich weiß: einst sind wir wieder Brust an Brust.
Im Tiefsten waren wir einander treu.
Dein Leid ist mein Leid, deine Lust mir Lust.
vor dir hat keiner meiner Wünsche Scheu.
Wir wandern immer aufeinander zu,
ob wir auch scheinbar fremde Wege gehn,
und was ich, glaubst du, dir zuwider tu,
es wird zuletzt als dir zugut bestehn.
Ein Sommerabend, Wiesenruh, der Mond,
zwei Menschen halten schweigend sich umarmt.
Dann hat der Leidensweg sich doch gelohnt,
der Himmel seiner Kinder sich erbarmt.
Sie schreiten still - wie eins das andre stützt! -
dem schönen Ziel zu, unerschütterlich . . .
So finden wir das Glück, für dich, für mich,
den großen Frieden, der uns beide schützt.


22. 08. 1930

Eifersüchtige Klage eines Abreisenden

Ein Mensch fährt ab und ist wie nie gewesen:
beim Abendmahl sitzt schon ein andrer da.
Vielleicht hat meinen Namen noch gelesen,
wer dann gelangweilt in das Gastbuch sah.
Die Kellnerin, die gestern mich verwöhnte,
ist heut' von dem, der nach mir kam, beglückt,
und mit dem Strauß, der meinen Platz verschönte,
hat sie des neuen Kunden Tisch geschmückt.
Wie dumm der Wirt jetzt um den Fremden dienert
Willfährig schluckt er jeden Dialekt,
ob einer waterkantert oder wienert -
er hält den seinen sehr diskret versteckt.
Ihm fließt für jeden Honig von der Lippe,
ein Titel wird dem Zahler gern verliehn.
Schon grüßt der Zeitungsmann die neue Sippe,
dem ich noch gestern unersetzlich schien.
Natürlich ist die neue Schar aus Sachsen
und, wenn es schlimmer trifft, aus Yankeeland,
stets aufgelegt zu allzu lauten Faxen,
im andern Fall: langweilig, arrogant.
Sie herrscht im Raum, der gestern mir gehörte,
beschlagnahmt meine Zeitung, meinen Wein,
und was mich gestern schon ungreifbar störte,
kann ihre Ankunft nur gewesen sein.
Jetzt hat sie meinen Namen auch gelesen
und macht im Gästebuch ein Eselsohr.
Ein Mensch fährt ab und ist wie nie gewesen,
und wo du fehlst, springt gleich ein andrer vor.


12. 09. 1930

Herbstliche Trauer

Die Tage zerflattern.
Die Liebe versiegt.
Durchs Fenster mit matterm
Flügelschlag fliegt
ein sterbender Falter.
Nun ist es so weit:
es naht sich das Alter,
gezählt ist die Zeit.
Was hast du genossen,
was hast du genützt?
Die Jahre verflossen,
kein Elternhaus schützt,
es birgt keinen Frieden
ein Heimatversteck.
Schon wirst du gemieden,
ein Kinderschreck,
verächtlich den Jungen,
ein grämlicher Greis,
dem nichts gelungen,
von dem niemand weiß.
Keine Freude der Frauen,
kein Trost einem Schoß.
Im Schwärmen und Schauen
verlorst du dein Los.
Den Leichenbestattern
trägt es dich zu.
Die Tage zerflattern,
mit ihnen: du!


09. 1930

Eine Bergnacht

Das Abenddorf im Schlummer liegt,
vom Bergwind in den Traum gewiegt.
Leis geht von Wald zu Wald ein Wort,
geschwätzig trägt der Bach es fort.

Ein Mensch steht im Gesträuch allein,
groß, unbewegt, ein Bild von Stein,
und wer ihn sähe, wüßte nicht,
was er zu seinem Sternbild spricht.

Ist es das Wort von Wald zu Wald,
das nun im Echo widerhallt,
vor dem das Herz des Mondes bebt,
das alle Nächte überlebt?

Der Wind wird plötzlich wild und laut
und raubt die Erde sich zur Braut,
zerzaust des Waldes grünes Haar
und tanzt als trunkener Barbar.

Der Bach sich schüchtern wiederholt,
ihn schreckt, was in den Schluchten johlt.
Das Dorf, aus Träumen aufgestört,
vergräbt sich, daß es nichts mehr hört.

Nur sacht im Turm die Glocke schwingt,
bedacht, daß nicht ihr Lied erklingt.
Groß, unbewegt, ein Bild von Stein,
steht im Gefild' ein Mensch allein.


09. 1930

Souvenir de Paris

          1
          (Für Paul Graetz)

Die Autos donnern durch die Avenue,
mir schwindelt auf der Insel im Getriebe.
Ich irre planlos. Plötzlich les ich: Rue
(und taumle) Chabanais. Markthalle Liebe.
Die Gassen schlingen sich zu einem Knoten;
wie soll ich die erwünschte wiederfinden?
Stieg ich herab von des Montmartres Toten,
sah ich die Negerin, um zu erblinden.
Das braune Fleisch, das ich so lang ersehnte,
warf jetzt ein dunkles Tuch um meine Knochen,
und als ich mich an ihre Schulter lehnte,
hat sie den Preis für ihre Gunst gesprochen.
Ich war zu arm, dies Glück mir zu gewähren,
so heftig ich die Mondene begehrte.
Ich saß im Park Monceau; es flössen Zähren,
weil ich das Wunder selber mir verwehrte.
Es schaute Maupassant auf meine Trauer,
die Kinder spielten, Bonnen schwatzten fad.
Und peinlich kriegerisch lag auf der Lauer
im Arc der unbekannte Pflicht-Soldat.


          2

          (Für Flechtheim)

In der Hotelbar zwischen sechs und acht
sind aufgebaut die lauernden Kokotten.
Sie halten, hold gewappnet, Wacht
mit Augen, die mich Schüchternen verspotten.
Es spinnt ein giftges Netz, das mich erwürgt,
von ihnen sich zu kecken Kavalieren.
Ach, mir ist immer nur die Rast verbürgt,
im Restaurant, bei bürgerlichen Bieren!
Ich kehre ein, als abgetrabtes Tier,
enttäuscht von dem Versagen der Bordelle,
besänftge mich gemach bei Schnaps und Bier
als nächtlich treuer Gast der steten Stelle.
Und wanke heimwärts als der letzte Gast:
die Avenue ist leergefegte Tenne,
verjagt des lauten Tages krasse Hast,
daß ich, was früh war, kaum noch jetzt erkenne.
Der Fahrstuhl schwebt durch dunkler Gänge Nacht,
Schuhpaare vor den Türen mich verspotten,
die Bar liegt wie im Lustmord umgebracht,
in Rattenlöcher schlüpfen die Kokotten.


          5

          (Für Tucholsky)

Dies ist das Seligste, sich ganz verlieren,
und wieder finden, wie nach Ewigkeit:
man läßt sich wahllos durch die Stadt spazieren
und weiß von keinem Ziel und keiner Zeit.
In fremden Vierteln bin ich gleich zu Hause,
lehn lässig an der Brüstung übern Fluß.
Das Leben blüht als frohe Ferienpause
und alles ist ein himmlischer Genuß.
War eben noch Gewirr und wüstes Lärmen,
liegt jetzt ein Kirchengäßchen, scheu, verstummt.
wo sich auf Mittagsbänken Greise wärmen
und aus der Sakristei huscht es vermummt.
Schon will ich dort die alten Wunder träumen
von Maiandacht und wundem Weihrauchduft,
von der Betörung unter Lindenbäumen,
da weht schon eines andren Lebens Luft:
vor einer Bar in Arbeiterquartieren
sitz ich für immer, und die Welt ist weit.
Dies ist das Seligste, sich ganz verlieren,
und wieder finden, wie nach Ewigkeit.


          4

          (Für Masereel)

Hotel in Montparnasse, du Kartenhaus,
und eine Liebeslaube jedes Zimmer.
Durch offne Türen blühte Strauß um Strauß
der Hochzeitsbetten, duftig weißer Schimmer.
Dunkelnde Zuflucht! Steil zum Himmel führt
die abenteuerlich verspielte Stiege,
und jedem wird zuletzt, was ihm gebührt,
die Lust der Niederlagen und der Siege.
Holder Verzweiflungen Dornröschenschloß,
das dich galant geschützt vor den Spionen.
Hält schon am Tor des Zaubers Feuer-Boß,
dich zu entführen nach den Märchenzonen?
Noch ist das Märchen dürftig Lustbarkeit,
Studententag, Bohemeulk, Redoute,
das Grammophon, ein buntes Sommerkleid,
und eine, nur geträumte, Reiseroute.
Und bleibt es auch in Zukunft schwach und blaß,
war es doch stets ein gern gehegter Glaube.
Das billige Paradies vom Montparnasse
vermietet jedem eine Liebeslaube.


          5

          (Für Claire und Iwan Goll)

Der weiße Flug der kleinen Christusbräute
flattert aus Sacre Coeur zur Stadt hinab,
ein Taubenschwarm; es trägt ihn das Geläute
über die Treppen in das Großstadtgrab.
Vorbei an jeder Lockung dieser Gassen,
Nacktphotos und zweideutgem Bücherkram.
Sie hüpfen Hand in Hand, gereiht nach Klassen,
noch immer unterm Blick der Schulmadam.
Doch mählich muß der sittsam starre Reigen
sich lockern, lädt ein Spielplatz ein zur Rast,
verspricht der schöne Mann etwas zu zeigen,
was du, mein Kind, noch nicht gesehen hast.
Und hinter einer Hand und einer Hecke
wird mancherlei der Unschuld offenbar -
denn es ist eine ziemlich weite Strecke
zur Chabanais vom Sacre-Coeur-Altar.
Die letzten retten sich in das Zuhause
und sind noch lange ehrbar wie auf Draht
und tuscheln heimlich nur in einer Pause
von dem, was Grieux seiner Manon tat.


24. 09. 1930

Strophen vom Herbst

Es mahnt der Tage fahl gefärbte Kürze,
die mit der Wärme und den Liedern kargt.
Der Wind hat eine seltsam herbe Würze.
Der Park wird langsam wieder eingesargt.
Schon schwimmt vergilbtes Laub auf den Kanälen,
und selten zeigt sich auf dem Teich ein Kahn.
Bejahrte Paare sich mit Liebe quälen.
Laut zu sich selber spricht in seinem Wahn
ein Weib, das durch die kahlen Büsche flattert.
Ihr dünnes Haar bekränzt der Sonne Spott
mit goldnem Stroh: der Chor der Enten schnattert
ein Echo von der Irren Schrei zu Gott.
Und alle, die jetzt dieses Pflaster laufen,
vergaßen ihres Sommers roten Mohn.
Man kann die Kirchhofsblume Aster kaufen
und vor dem Tod gewappnet sein mit Hohn,
sich selbst aufgeben und den Herbst umschwärmen,
verkrampft weglachen, was die Stunde stört.
Die Stadtbahnzüge und die Autos lärmen,
und doch hab ich den leisen Ruf gehört,
und eh' ich in die letzte Leere stürze,
pflück' ich die Früchte, die man mir verargt.
Es mahnt des Herbstes fahl gefärbte Kürze,
die Welt wird flüchtig wieder eingesargt.


21. 10. 1930

Letzter warmer Tag im Tiergarten

Mit bunten Blättern ist der Teich beschneit.
Es raschelt auf den Wegen, die ich schreite,
auch unter meinem Fuß Vergänglichkeit.
Es gibt mir welke Liebe das Geleite.

Die Sonne preßt sich gierig an den Park,
und wenn sie jetzt die letzte Glut verschwendet,
so glaubt sie wohl, sie sei trotz allem stark,
indes ihr Jahr doch, wie das meine, endet.

Man feiert auf den Bänken, Hand in Hand,
noch einmal sich ein Sommerfest entfaltet.
Die Kinder bauen Burgen in den Sand,
der heut noch warm ist, morgen schon erkaltet.

In offner Pferdedroschke läßt ein Greis
sich langsam durch die wohlge Wärme fahren,
geschloßnen Auges spricht er Liebes leis
zu seiner Frau, - sie starb vor vielen Jahren.

Sehr sachlich redet klug von Rad zu Rad
ein junges Paar und meint die gleiche Liebe.
Noch einmal nimmt ein Hund im Bach ein Bad,
glückt es im Freien einem Taschendiebe.

Noch einmal das Konzert herüberdröhnt
aus den Vergnügungsstätten, die bald schließen.
Noch einmal wird man sacht vom Glück verwöhnt
und darf es, eh der Vorhang fällt, genießen.

Soviel Geschicke spielen hoffnungsvoll
den letzten Akt und freun sich ihrer Farben.
Das Schiffssignal, das vom Kanal erscholl,
klingt wie der Pfiff, bei dem Gehetzte starben.

Noch einmal schmückt der Busch sich rot und braun,
doch morgen schon schminkt sich der Himmel grauer;
zum Selbstmord lockend, düster anzuschaun,
liegt dann der Gondelteich fahl auf der Lauer.

Bald wird es regnen. Bald versucht der Park
im Witwenkleid sich Mitleid zu erbitten
von einem Winter, der brutal und stark
langsam sich naht mit seinen Mörderschritten.


30. 10. 1930

Seltsame Unruhe

Jetzt plötzlich sehne ich mich aus dem Haus,
obwohl mich deine Nähe halten sollte.
Unruhe treibt mich in die Nacht hinaus,
die mich doch hier mit dir umfalten wollte,
als lockte ein Erlebnis unbekannt,
gefährlich neu, mir selber zu entrinnen,
als würde hinter meiner Zimmerwand
das Märchenreich des Glückes gleich beginnen.

Wenn auch aufs Fensterblech jetzt Regen schlägt
mit Fingern, die von keiner Schonung wissen,
wer seine Last auf Schmugglerwegen trägt
und hat in dieser Nacht nicht Zelt und Kissen,
ihm neide ich die unbehauste Not.
Wie ein gefangnes Wild in seiner Grube,
vor meinen Augen Wut- und Sehnsuchts-Rot,
trabe ich hin und her in meiner Stube.

Ich wittre draußen ein besondres Tun
und möchte gern in fremde Räume blicken
und sehn,wie im Winde hilflos nun
des Großstadthofes dürftge Bäume nicken,
aus ihrem dünnen Haar die Träne tropft,
sie werfen, mich zu warnen, ihre Arme.
Aufs Fensterblech hartnäckig Regen klopft,
dein Mund harrt, daß ich seiner mich erbarme.

Ich aber denke mich in fernes Land
und bin bei dem, was hier wird, nicht vorhanden.
Und streichelt übers Haar dir meine Hand,
will doch mein stummer Wunsch an Ufern landen,
die du nicht ahnen kannst. Ermüdung schiebt
mich schließlich in den Schlaf an deine Seite.
Doch auf verbotenen Traumwegen gibt
mir lüstern fremde Lockung das Geleite.


04. 11. 1930

Absage

Ihr merkt es nicht, daß ich mich selbst zerstöre,
ihr, mir Vertraute, ahnt auch keinen Grund,
weil ich euch fremden Welten angehöre
und keine Klage kommt aus meinem Mund,
weil ihr nicht wißt, was ich mir stets versage -
nach Küssen hungert mein vergrämter Mund,
nach nackten Fraun mein Auge -, keine Klage
wird laut, kein Mensch ahnt meiner Trauer Grund.
Ihr ladet mich zu einem gutem Mahle,
es schmeckt mir, und ich spiel mit einem Hund,
doch daß ich euch mit meiner Scham bezahle
und darum hasse, wird euch niemals kund.
Die Schöne ist vergnügt bei mir zu Gaste,
ihr Blick ist hurtig und ihr Witz gesund;
wie lang ich schon als Liebespartner faste,
wird keinem ihrer sichren Scherze kund.
Der Freund denkt nur an seine eignen Freuden,
um jede Frau verrät er unsern Bund.
Ich muß in Träumen meine Lust vergeuden.
Mein Wort ist keck, doch meine Seele wund.
Brav sitze ich mit euch am Wirtshaustische,
und wohlig rinnt das Bier in meinen Schlund,
und weil ich mich in eure Spaße mische,
glaubt ihr, ich wäre schon mit euch im Bund,
und weil ich mit euch tanze, mit euch lache,
schlägt eure Fröhlichkeit mein Herz auch wund,
und weil ich mich gemein mit allen mache,
meint man, ich sei wie sie dumm und gesund,
merkt niemand, daß ich nicht zu euch gehöre,
vielmehr der Bruder bin von einem Hund,
von einem Stern, und gern mich selbst zerstöre
und flüchtend stürze in den Höllenschlund.


12. 11. 1930

Gastwirtstochter

Gastwirtstochter in der engen Zelle
zwischen Thekenschranke und Regal,
hinter dir Liköre, dunkle, helle,
Flaschen, Bierglas, Schnapsglas, Weinpokal,
vor dir auf dem Schank die Hähne blinken,
der für Münchner, der für Pilsner Bier,
dann der Tisch mit Würsten, Käsen, Schinken,
dann die zweifelhaften Gäste: wir.

Mittags kommen die, die eilig essen,
selten schenkst du eine Weiße ein,
manchmal darfst du Pflicht und Welt vergessen
und mit einem Buche glücklich sein.
Doch der Kellner will Zigarren haben,
und dein kurzes Träumen wird gestört.
Armes Ding, das niemals seinem Knaben,
stets der ganzen Kundenschaft gehört!

Abends ist die schlimme Zeit der Zecher,
dann hast du zum Lesen keine Ruh;
ihre Becher füllst du, immer frecher
werfen sie dir tolle Zoten zu.
Und dir graut vor diesem Fresserbauche,
wo als Kette baumelt sein Gedärm.
Atmen kannst du kaum noch in dem Rauche,
denken kannst du kaum noch in dem Lärm.

Immer lauter wird er, schwillt zum Zanke,
Flüche hörst du, Schläge und Tumult.
Du blühst abseits hinter deiner Schranke
ohne Schüchternheit und ohne Schuld.
Und gelassen zählst du deine Kasse,
wenn der Vater seinen Laden schließt.
Mädchen, das, von Liebe fern und Hasse,
im Roman ihr Leben nur genießt!


14. 11. 1930

Der Unverbesserliche

Immer wird in seinem Traume,
schnarcht auch neben ihm sein Weib,
eine nackte Mädchenpflaume
zauberhafter Zeitvertreib:
seine Hand spürt ihre Feuchte,
sacht berührt sie seinen Mund.
Manchmal war das Paar, das keuchte,
auch auf allen vieren Hund.
Grausam ruhte seine Rechte
auf dem dürftigen Popo.
An dem rosigen Geschlechte
griff und blickte er sich froh,
spielte an den dünnen Beinen
auf und nieder seinen Sang,
bis er an dem Bauch der Kleinen
einen geilen Rausch sich trank.
Wie dem Liebespatriarchen
wärmt das Kind ihm dann den Leib . . .
Wacht er auf, so hört er schnarchen,
wie gewohnt, sein Eheweib.


17. 12. 1930

Lange Litanei von der Versäumnis


     1

Ihr Fraun und Mädchen, die ich einst versäumte,
mißtrauisch zögernd, als das Glück sich bot,
von denen ich doch stets, bis heut noch, träumte,
wo lebt ihr? Lebt ihr oder seid ihr tot?
Du meiner Jugend dummes Gastwirtsmädel:
allabendlich saß ich in eurem Schank
und soff und stützte meinen wirren Schädel
pathetisch in die Fäuste, liebeskrank.
Du bist vom Vater praktisch abgerichtet,
der argusäugig an der Theke thront;
du hörst dir an, was ich für dich gedichtet,
und rechnest nach, ob sich die Zeche lohnt.
Bist du nun Gattin einem Kavaliere,
der dich verprügelt, ausnützt und betrügt?
Mir hätte einst bei einem schalen Biere
ein kleiner Liebesblick genügt!


     2

Ihr Kellnerinnen der Studentenstreiche,
wo ich verluderte bei Grog und Punsch,
Sumpfhühner ihr, gerupft im Lasterteiche;
an euch auch wagte zag sich nur mein Wunsch.
In euren dumpf durchsäuerten Spelunken
verpaßte ich die schönste Sommerzeit,
hab ich um Amt und Achtung mich getrunken,
und doch: nie tun mir diese Stunden leid!
Denn ob ich kindisch auch vor euch geworben;
es blieb ein Duft von jeder Bummelnacht.
Ihr seid am Darmkrebs sicherlich gestorben,
vom pflichtgemäßen Saufen umgebracht.


     5

Haustöchter ihr, von sehr verschiednen Arten
und sehr verschiednem Alter, still begehrt,
umzirkelt stets von mir mit manchen zarten
Gedanken, doch zuletzt mir stets verwehrt!
Die erste war der Schule grad entronnen
und übte immer nebenan Klavier,
und ich erlebte heimlich hundert Wonnen,
wenn sie mir brachte Brot und Abendbier,
wenn sie mich schnippisch auf der Treppe grüßte
und ich sah flüchtig überm Knie das Band.
War mein Studentenzimmer eine Wüste,
so trennte doch nur eine dünne Wand
mein Bett von ihres Bettes Garten Eden.
Und wenn auch ihre Mutter mich verdroß,
mich in der Rechnung schröpfte und mit Reden
mißgünstig Gift auf ihren Mieter schoß,
ich hielt es bei euch aus soviel Semester,
bis ich von dieser Stadt wehmütig schied.
Wo spielst du, meiner Fuchsentorheit Schwester,
jetzt am Klavier für Mann und Kind dein Lied?
Dann du in München, gleichend mir an Jahren,
doch mehr als ich weltkundig und gewandt
im Lieben - ahnt' ich später erst - erfahren,
die erste, die als Dichter mich verstand,
die meine Strophen schon zu schätzen wußte,
doch meine Schüchternheit leis höhnisch nahm,
weil ich mich selbstbewußter geben mußte
und immer nur als banger Knabe kam.
Noch einmal sandtest du aus fernen Landen
mir eine Post wie einen späten Spott,
dann kam mit anderen mir ganz abhanden
dein Lächeln und dein herzhaftes Grüßgott!

Dann wieder schlesische Studentenbleibe,
der Dom war nahe und der Oderfluß;
kam ich nachts heim, schien hinter meiner Scheibe
die Lampe friedlich wie ein Hafengruß:
stets wachte noch die Dreißigjährge treulich,
wenn spät ich erst den Weg nach Hause fand.
Ihr Dienst am Kunden war zwar höchst erfreulich,
so häßlich sie im Hemd am Ofen stand.
Ich fühlte mich vor ihr beständig schuldig,
weil stolz ich meine eignen Pfade ging,
hielt sie mir doch den heißen Kopf geduldig,
wenn ich verzweifelt überm Eimer hing.
Auch war sie stets bereit, mich zu versorgen
mit einer Speise oder einem Trank,
sie hatte immer Wein und Schnaps verborgen:
ihr Bräutgam war Markeur in einem Schank.
Du warst mir eine gute, ältre Schwester,
durch dich schien Breslaus Winter gut und mild,
und als ich schied mit schließendem Semester,
blieb mir von dir der Gruß auf einem Bild,
der orthographisch falsch war. Kam die Ehe
mit dem Markeur noch gut für dich zustand?
Wenn ich an jenem Haus vorübergehe,
ein Traum heut, spür' am Kopf ich deine Hand.

Zuletzt ihr zwei: das schüchterne Brigittchen
und ihre jugendliche Frau Mama,
vor kurzem noch im Warenhaus, ein Flittchen,
leichtsinniger Friseur der Herr Papa.
Wie gern hätt' mit der Mutter ich geschlafen,
wie gern hätt' ich die Tochter wachgeküßt!
Dies pflegt Justiz als Schändung zu bestrafen,
als Ehebruch das andere Gelüst.
So unterdrückt' ich immer mein Begehren
und zeigte nicht, wie sehr ich an euch litt,
bewies Mama mit Blumen mein Verehren,
dem Töchterchen bracht' ich Schoklade mit,
ließ vom Papa Friseur nach allen Regeln
der Kunst mich neppen, machte alles mit:
war sein Kumpan bei Kartenspiel und Kegeln,
indes ich heimlich Liebesqualen litt.
Zu viele Zweifel hab ich lang erwogen;
dann könnt ich in der Wirtin Stube sehn,
den andern Zimmerherrn, den Theologen,
in Unterhosen höchst verfänglich stehn.
Fürsorgezögling wurde das Brigittchen,
Papa entpuppte sich erst allzu spät
als Kundiger von Spitzelei und Kittchen,
als ich den Trug der Universität
endgültig aufgab und die Stellung räumte.
Doch stacheln heut noch meine Liebesnot
Wirtsfraun, Wirtstöchter, die ich blöd versäumte,
mißtrauisch zögernd, als das Glück sich bot.


     4

Und dann ihr unbeschönigt dreisten Huren:
wie gern saß ich mit euch im Stammcafe!
Ihr kehrtet ein von euren Straßentouren,
euch zu erwärmen; kamt vom Separé
etwas zerzaust noch und mit irrem Grinsen
und überzähltet schleunigst euer Gut,
dann gönntet ihr euch eine Wurst mit Linsen,
und war euch ganz besonders wohl zumut,
verzichtetet ihr auf die Jagd nach Freiern
und wart mit mir sehr lustig und sehr laut,
und ich, statt Orgien mit euch zu feiern,
war stets platonisch nur mit euch vertraut,
war eures Schicksals zärtlicher Besinger,
verstanden kaum, doch schmeichelhafter Trumpf.
Es zitterten dem Gierigen die Finger,
schob ich Glücksgroschen sacht in ihren Strumpf.
In warmen Sommernächten war Gelächter,
Geschwätz am Markt mit euch ein Zeitvertreib,
wir rauchten, waren menschlich, auch ein
          Wächter
sprach mit und von der Heilsarmee ein Weib.
Manchmal nachmittags kam ich euch besuchen
ganz offiziell als ein Familiengast
und brachte Cognak mit und Streuselkuchen,
es war wie heimatliche Kirmes fast.
Ich ließ von euch mich hausfraulich bedienen,
ihr kochtet Kaffee, eure Wirtin auch
saß mütterlich am Tisch mit Gönnermienen
und einem wohlgenährten Würdebauch.
Und da es eng war, thront ich auf dem Bette,
dem lustersehnten, ganz korrekt. Wo seid
ihr Lokusfraun? In welchem Lazarette
hat von der Seuche euch der Tod befreit?


     5

Und des Provinztheaters holder Larven:
(Soubretten, Heldinnen, Naiven) Chor
mit Demutsblicken oder kitzelnd scharfen
mich Kritiker um seine Gunst beschwor,
wenn ich aus meiner Loge prüfend schaute
hernieder auf der Bühne buntes Feld.
Ich töricht Schüchterner, warum getraute
ich höchstens mich zu bechern mit dem Held,
dem Väterspieler und dem Intriganten,
war der Elevin onkelhaft nur Schutz?
Es tratschten trotzdem ja die Bürgertanten
und meine Scheu war niemanden zunutz!
Wenn ich des Offiziers und der Naiven
Liebschaft großmütig meine Hilfe lieh, -
daß alle Bühnenmädchen mit mir schliefen,
jedweder Spatz von jedem Dache schrie.
Und wenn ich gar noch einer mein Verlangen
zwischen den Zeilen der Kritik gestand,
dann war ich desto mehr vor ihr befangen,
gab sie beim Bühnenball mir ihre Hand.

Erinnert ihr euch heut noch meiner blassen,
leicht komischen Theaterliebe, sagt?
Eine von euch traf ich in Breslaus Gassen
dann wieder als ein Hürchen hochbetagt;
als Ehefrau in Steglitz eine zweite,
sehr ordentlich in reifer Würdigkeit,
und beide würden gern als Erzbereite
nachholen das Versäumnis alter Zeit.
Wo aber sind die anderen geblieben,
in welcher Schmiere oder welcher Pracht
liest eine nach, was ich von ihr geschrieben,
und träumt mein Bild in der Premieren-Nacht?


     6

Verkäuferin im Zigarettenladen,
wo heimlich im Versteck der Schüler raucht
und wo auch ich oft, von der Knaben Gnaden,
Mitschwärmer war zu dummem Spiel mißbraucht.

Am Marktplatz, du seltsames Fräulein Schneider,
wenn nachts noch Licht in deiner Werkstatt war,
klopfte ich an, saß in dem Duft der Kleider
glückselig zwischen deiner Mädchenschar.
Ihr nähtet noch für Fasching. Gern gesehen
war ich, weil ich zur Kurzweil laut euch las
aus Büchern Spaß und seltsames Geschehen, -
und lächeltet, daß ich so artig saß.

Du Försterstochter auch: dein strenger Vater
nahm dich am Samstag mit zur Stadt hinein.
Ich sprach mit dir von Bildern, vom Theater,
anstatt dir einmal herzhaft gut zu sein.
Doch war dein Spiel schon damals abgekartet,
du hast geheim dich anderswo beglückt,
und plötzlich bist du, mir ganz unerwartet,
mit einem Abenteurer ausgerückt.

Ein Schreibmaschinenfräulein mit Gedichten,
mit eigenen, die Rat sich holen kam.
Ich nährte ihre Geilheit mit Geschichten
und raubte ihr mit Worten nur die Scham.
Sie mußte mir ihr lila Strumpfband geben,
wir gingen tiefer in den dunklen Park -
doch nichts geschah, weil immer vor dem Leben
mir bang war, nur in Träumen schien ich stark.

Hernach die Ladnerin vom Warenhause.
Sie führte ich im Schützensaal zum Tanz,
dann traten wir in einer Walzerpause
auf den Balkon. Im Strom der Sternenglanz
ließ mich das Mädchen neben mir vergessen,
und mit den Wellen mein Gelüst verrann . . .

Die Bahnerfrau auch hab ich nicht besessen,
obwohl oft einen Nachtzug fuhr ihr Mann.
Und eine geile Schlosserstochter klagte,
weil in des Sommerfestes großem Rausch
nur ich den Griff an ihre Brust nicht wagte.

Euch alle gab ich hin in schlechtem Tausch
für mein geheimes Reich aus Wünschen, Schwärmen,
wo Abenteuerliches leicht geschah,
wo mein sich glücklich Fühlen und sich Härmen
nur immer eure schönen Schatten sah.


     7

Und plötzlich war die große Gnade da!

Als ich am Weihnachtsabend dich erblickte:
Du blühtest, eine Rose im Parkett,
zu der ich meinen Gruß hinunterschickte.
Und nachher lag ich wach in meinem Bett
und dachte nichts als dich! Am nächsten Morgen
schrieb ich dir einen Brief. Und endlich kam
die Stunde, da ich treu bei dir geborgen,
von allen Abenteuern Abschied nahm.
Hier war Geliebtzuwerden und zu Lieben
ein Daseinsglück, einst einsam nur erträumt!
Doch ist mein Wunsch dir immer treu geblieben?
Es lockt mich heut noch viel - und wird versäumt,
steht vorwurfsvoll am Lebenspfade da.


     8

Da war des Freundes Frau, die sehr verwegen
das Böckchen schürzte und sich selbst anbot.
Ich freilich blieb vor ihrer Gunst verlegen
und wieder wie ein Schüler schamhaft rot.
Die Tänzerin auch, die entzückend schmale,
mondäner Brettlnummer Partnerin;
ich folgt' ihr von Lokale zu Lokale,
blieb anonym, wie ich es immer bin.
Die Jüdin dann, die Medizin studierte,
gab mir im Haustor einen Zungenkuß;
doch weil ich mich vor plumper Tat genierte,
kam ich zu keinem größeren Genuß.
Dann spielte eine kleine Nebenrolle
in meinem Stück ein anschmiegsames Ding;
bei ihr in der Garderobe sprach ich tolle
Unzüchtigkeit. Und dennoch schüchtern ging
ich mit ihr aus, für Weihnacht einzukaufen.
Und auch die geile Frau des Regisseurs
versäumte meine Scheu. Mich zu besaufen
blieb mir nachher die Flut nur des Likörs.
Durch diese Flut noch trieb an manch Gestade
der Liebesinsel ohne Glück mein Kahn.
Mich lockte mancher Busen, manche Wade,
ein Gegenüber in der Eisenbahn,
ein Augenpaar an einer Fensterscheibe,
von einer Radlerin das Seidenknie.
Es blieb von jedem fremden Frauenleibe
ein Duft, ein Gruß in meiner Poesie.


     9

Was blieb von dir, Malfrau? Du warst umgittert,
ein Vögelchen im Atelier-Verschlag.
Vom Lustmord schien dein fahles Reich umwittert,
das fern der Welt, versteckt, hoch oben lag,
bei Schornsteinschächten und bei Rumpelkammern,
wo übers Glasdach nachts die Maske tappt,
die Katzen ihre geilen Klagen jammern,
und mit der Bodentür ein Windstoß klappt.
Mit leichten Schauern kam ich dich besuchen,
von der Armseligkeit ringsum bedrückt.
Bei dünnem Tee und ziemlich trocknem Kuchen
hat deine Nähe dennoch mich beglückt.
Ganz ohne Gruß warst plötzlich du verschwunden,
auch vom Portier erfuhr ich keine Spur.
Ein Alpdruck lag auf unsern Plauderstunden;
doch fragt etwas in mir: »Wo steckst du nur?«

Auf manchem Atelierfest, manchem Balle
hat mich, was ihr mir nicht verübeln könnt,
ein Reiz gelockt. Es war in jedem Falle
kein günstiges Erlebnis mir vergönnt.
Auch kehrte ich aus jeder Sommerfrische
reichlich enttäuscht, beleidigt gar, zurück.
Die Kellnerin saß gern an meinem Tische
und sperrte doch mir ihres Bettes Glück.
Die reiche Frau dann im Berliner Westen
lud mich zum Tee und sprach Literatur,
hielt mich zweideutig immerzu zum Besten
und machte im Pyjama gut Figur.
Ich mußte mich, korrekt zu sein, bezwingen,
daß sie zweideutig warb, war mein Verdacht.
Sie ließ mich vom Chauffeur nach Hause bringen
und hat mich mit dem Gatten ausgelacht.

Und was blieb mir von den Kritikerjahren,
die ich ans Trugbild Kabarett verlor:
Undank und Mißgunst hab ich nur erfahren,
war schließlich wieder der betrogne Tor.
Wie einst beim heimischen Provinztheater
vergalt man wieder meine Liebe schlecht;
und dem gewissenhaften Kunstberater
warf bös man vor, er beuge schnöd das Recht.
Von keiner Tanzmaid, keiner Chansonette
ward mir ein wenig Zärtlichkeit zuteil.
Es hing nur Haß an meinem Gehn als Klette,
und weiter blieb ich sehnsuchtsvoll und geil.

Denn immer war es so: daß ich von Frauen
umgeben war und Hahn im Korbe schien,
und hatte nichts als menschlich ihr Vertrauen,
und höchstens ist es bis zum Kuß gediehn,
der weiter nichts verspricht, man sitzt vereinigt
in unsrer Künstlerkneipe, tut vergnügt,
und niemand ahnt, daß mich Begierde peinigt
und daß mein harmlos lautes Lachen lügt.
Der Selbstbewußte fährt mit der Begehrten
im Auto heim zu sich. Das alte Lied:
wem die Bedenken die Erfüllung wehrten,
er darf nicht klagen, daß sein Glück ihn mied.
Doch darf er einmal Rechenschaft sich geben,
was er verpaßte, weil er schüchtern war.
Verhängnis: daß ein sonst so trunknes Leben
im falschen Augenblick stets nüchtern war.


     10

Warum nur hab ich niemals mehr gewagt?

Weil doch in meines Wesens tiefstem Grunde
das Blühen deiner Rose alles schlug.
Und lüstern war ich stets nur mit dem Munde
und mit dem Auge, und mein
Träumen trug
ins Unbekannte mich! Mein wahres Wollen
blieb immer deiner Liebe einverleibt.
Denn wenn zwei Seelen sich umarmen sollen,
der Sturm der Lust auch sie zusammentreibt!
Und meine Schüchternheit vor andern Frauen
ist schließlich nichts als Schüchternheit vor dir,
und daß sich meine Wünsche nicht getrauen
zu sagen: Komm und tue dies mit mir!
Das Wüsteste begab in meinen Träumen
sich stets mit dir, die mir zur Seite lag.
Und immer galt das schmerzlichste Versäumen
der Wiederkehr von unserm Hochzeitstag.

Jetzt endlich hab ich es dir doch gesagt!


19. 12. 1930

Abenteuer im Alltag

Der Greis schleicht leicht vermummt gleich einem Dieb
die dunkle Hintertreppe leis empor,
wie einst als Schüler zu dem Kirchenchor,
wo im Geheimen er Verbotnes trieb.
Schon öffnet sich von selbst die Tür geschwind,
er schlüpft in eine Küche, grinsend nickt
das Weib zum Gruß. Der Regulator tickt.
Von einer Bank am Ofen sieht das Kind
ihn seltsam an, neugierig und auch scheu,
und wartet artig, während Weib und Greis
im Flüstertone feilschen um den Preis.
Kaninchen rascheln unterm Tisch im Heu.
Es hüstelt. In der Lampe singt das Gas.
Die Frau steckt ruhig einen Geldschein ein,
hilft ihm aus seinem Pelz und reicht ihm Wein,
und wie verdurstet leert er schnell sein Glas,
ist sehr befangen, spricht: »Das liebe Tier!«
und starrt verdutzt auf ein Kaninchenfell.
Da ruft die Frau: »Komm Lotte, mach doch schnell
dein Knixchen vor dem lieben Onkel hier!«
Das Kind sagt: »Guten Abend!« wie es Brauch,
der Greis schenkt eine Tüte mit Konfekt;
die legt die Frau beiseite; sachlich deckt
sie auf die Beinchen und den kleinen Bauch.
Das Kind und auch der Alte atmen schwer …
Es wagt ein Streicheln seine welke Hand,
ein zartes Spiel mit Strumpf und Gummiband,
vielleicht noch einen Kuß, und dann nichts mehr.
Der Kuß war schon zuviel und hat nach Harn
- verlogner Traum von jungem Duft! - geschmeckt.
Es lag das Kind gleichgültig hingestreckt;
der Greis empfand: »Man hielt mich stets zum Narrn
Ich überzahlte, was ich nie empfing!«
Es strich das Kind sein Röckchen sich zurecht,
der Greis verbarg sein dürftiges Geschlecht,
nahm mürrisch seinen Mantel um und ging.

Als er die Abendgasse dann betrat,
fror er ein wenig, fühlte sich fast krank.
Unwirklich schien ihm der gewohnte Gang
des Lebens, das ganz selbstverständlich tat.
Ein Weilchen noch in einem Park verstört er saß,
betrachtete im Spiegel sein Gesicht,
erkannte sich im Dunkel selber nicht
und fand wie immer heim und trank und aß.

Das Kind kam zu den andern vor das Haus,
man spielte unter den Laternen Krieg.
Es hatte sein Geheimnis, log und schwieg
und sah naiv und unbescholten aus.


 

Weihnachten 1930

Es duftet weihnachtlich der Korridor

Schon duftet weihnachtlich der Korridor,
in seiner Kühle harrt der Tannenbaum.
Ich liege wach wie einst als Kind, bevor
am Christfest endlich Wahrheit ward mein Traum.

Ich grüble über einem Glücksgeschenk,
das deine kühnsten Wünsche dir erfüllt,
und aller Sünden bin ich eingedenk,
durch die mein Liebesblick sich dir verhüllt.

Du sehnst dich in der Berge Schnee empor:
zu dumpf, zu eng ist dir der Stube Raum.
Es duftet weihnachtlich der Korridor
nach Äpfeln schon, Konfekt und Tannenbaum.

Du sehnst dich nach der Tanne wahrer Pracht,
wenn sie, mit Gipfelglanz und Sternenlicht
begnadet, durch die weite Winternacht
den Segen über alle Täler spricht.

Du sehnst dich nach der Glocken großem Chor,
der aufklingt zu der Wälder weißem Saum;
verlogen dünkt in unserm Korridor
der Duft von Winter dir und Tannenbaum.

Als Rodelschlitten fährt dein Bett zutal
mit dir, auf Skiern gleitest du gewandt
um Felsenhindernisse: sanft und schmal
erreichst im Schlaf du deiner Sehnsucht Land.

Indes mir war, als ob ich einsam fror,
vom Schnee mit immer dichtrem Tod bedeckt -
Und draußen duftet unser Korridor
nach Weihnachtstanne, Apfel und Konfekt.

Sind wir erst in den neuen Tag erwacht,
wird dieser Duft uns heimatliches Gut:
du wirst von ihm zu mir zurückgebracht,
und unser Traum hat Haupt an Haupt geruht.

Er führt uns nun umschlungen weit hinaus
hoch über Steingeröll und Wolkensaum;
es duftet weihnachtlich das Weltenhaus,
und in den Himmel blüht der Sternenbaum.


 

Silvester 1930

Ich weine um dich

Ich weine um dich. Ich alter Mann,
der allen als Zyniker gilt,
weine, weil du mir leid tust. Ich kann
nicht verwinden das schmerzhafte Bild:
wie du einsam in unserem Bette liegst,
mich erwartet dein Gefühl -
endlich komme ich, und du schmiegst
dich zärtlich an mich .. . doch ich küsse dich kühl
und schlafe bald und bin dir fern.
Du liegst weiter wach …
Leuchtet aller Liebenden Stern
über unserem Dach?
Ich muß mich schämen vor seinem Glanz:
ich bin so ausgebrannt,
zerstört, verlöscht, erkaltet ganz.
Ich komme mit leerer Hand.
Was könnte ich geben, was du nicht längst hast?
Ich bleibe in deiner Schuld
und bin weiter dein Lebensgast,
mißbrauche deine Geduld,
tauche aus meinen Träumen auf,
treibe an dir vorbei,
bin immer anderswo: sinn' und sauf
in der Einsiedelei!

Was mag aus uns beiden werden?
Wenn die Neujahrsglocken erschallen: Friede auf Erden
und den Menschen ein Wohlgefallen!


 

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