Gedichte 1923

Gedichte

1923

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Der Wannsee-Matrose

Sonett

Niederlage des Feindes

Berliner Sonntag

Entführung

Ungelebtes Leben

Die Vergeltung

Dichterehe

Der Jäger

Verse

Ahnung

Der Unwirkliche

Kampf einer Nacht

Apokalypse

Lied eines Wartenden

Die unendliche Versuchung

Ballade letzter Enttäuschung

Der verlorene Sohn

An die Traumlandschaft

Es bleibt sich gleich

Ein Sonntag

Ewiger Karfreitag

Vor einer Fahrt

Schicksal eines Mannes

Einsames Abendwandern im Wald

Die Glücklichen

Teuflische Landschaft

An eine Gymnasiastin aus Steglitz

Für Leni

Eines Kranken Sonntag

Wir wehrlos vor dem gleichen Schicksal

Ich spiegle deinen Stern

Lied winterlicher Wehr

Ein Glück

Heimfahrt

Wandlung der Heimat

Kehraus

Maienabend

Bergwunder

Der Morgen

Ein Greis spricht zur jungen Frau:

Nacht voll Todesangst

Triumph des Mordes

Zwei Welten

Winterlicher Sommer

Wunder der Allgegenwart durch Liebe

Alle Sterne sterben

Die Beglückung

Die Weltverwaisten

Einsame Flucht

Am Abgrund

Herbstschwermut überm Feld

Verlorner Sommer, verlornes Leben

Selbstzerstörung

Die gnadenreiche Nacht

Der arme Menschenfeind

Das Wunder

Zwei Welten unter einer Nacht

Die Verfolger

Zerstörung

Abbitte

Klagelied

Abschied im Herbst

Der Tod

Der Soldat

Tödliche Nacht

Gebet

Abschied

Hoffnung auf Wiedersehen

zurück zu Max Herrmann-Neiße - Gedichte 1900 - 1923

zurück zu den Gedichten von Max Herrmann-Neiße


13. 01. 1923

Der Wannsee-Matrose


    1

Leichte blumige Maryland
raucht ihr Ratten auf dem Land;
unser Seemannsknaster
unserem rauhen Stand entspricht,
unser Schlund ist ausgepicht
für das schärfste Laster.
Denn wir fahren, Leichtmatrosen
auf dem Wannsee, das Hausboot.
Der Taifun bläst, und wir losen
liegen auf dem Grund maustot.

So segeln wir, so segeln wir
wohl auf der sichren See,
und Vögeln auf dem Wasser,
wenn sie so kühnlich tauchen,
geht das Heck in die Höh, juchhe!
Hoch weht die Flagge! Hoch das Bein!
Jazzband. Hipp-hipp-hurrah!
Stolz fährt der Lotterieverein
auf der märkischen Adria.



    2

Nur solang der Sommer währt,
wie er forsch die Flut befährt,
könnt ihr unser Boot sehn.
Winters muß ich dann ans Land
und entsprechend meinem Stand
bleibe ich beim Lotsen:
zu den Zechern und den Koksern
und wo nackige Stepper
wechseln nachts mit dito Boxern,
bin ich dreist und sicher Schlepper.

So führ ich euch, so führ ich euch
wohl in das Separé,
zu Nachtvögeln geheimen,
wenn die auch kühnlich leimen,
schmilzt der Dollar wie Schnee, juchhe!
Und schmilzt der ganze Schnee zu Schleim,
der Seemann, der hält durch!
Leer kehrt der Filmklub »Niete« heim
aus dem Fischzug von Rummelsburg.


06. 02. 1923

Sonett

Die Einsamkeit umkreist mich wie ein Tier,
das böse ist, und sich zuletzt nicht traut.
Mein Gram ertrinkt in einem Glase Bier.
Zur Tröstung Sprech' ich mit mir selber laut.

Soeben war ein Saal um mich gebaut
voll Menschen, und mich kränkte ihre Gier.
Dort hat kein Auge lieb auf mich geschaut -
ich flüchtete nach Haus: nun fehlst du hier!

Da will ich lesen, bis du wiederkehrst:
doch Worte sind wie Gift und brennen mich
und auch die Flucht vor ihnen birgt Gefahr.

Wenn du mit mir zur Hölle niederfährst,
wird solcher Stunde Spiegel kennen mich
als einen, dem schon Leben Hölle war.


09. 02. 1923

Niederlage des Feindes

Mein Abend wollte einsam werden,
geheimnisvoll und geisternah;
schon waren des Gemachs Gebärden
dem großen, lieben Meister nah.

Da hat mit der verlognen Larve
der Feind mein Feiern heimgesucht.
Der Gärten Wind schwieg in der Harfe,
ihr Lied war plötzlich auf der Flucht.

Die Einsamkeit kroch ins Gehäuse
wie eine Schnecke, bös berührt;
verstummt war das Genag der Mäuse,
als hätte ich die Wand berührt.

Er legte aller fremden Welten
Verstecktes lüstern auf mein Grab.
Dann war ich tot vor den entstellten
Abbildern, die sein Spiegel gab.

Tot war das Herz in meinen Büchern,
tot war der Lampe Abgesang,
verhängt mit schwarzen Leichentüchern
der Tanz am Rain des Traums entlang.

Dann wuchs der Tod und wurde größer
als dieses Feindes Lebenshaß
und stieß auch ihn als starker Flößer
in des Nirwanas kaltes Naß.

Es rauschen der Delphine Herden
der Sintflut wilden Meister nah.
Mein Leben konnte einsam werden,
welteinsam groß und geisternah.


11. 02. 1923

Berliner Sonntag

Parterre: die Fremdenpension
ist ausnahmsweis radaulos.
Den Hochzeitsmarsch von Mendelssohn
übt drüben die Rentiere Kohn.
Herr Schmidt ist seine Frau los,
die zu Besuch nach Spandau fuhr,
pennt junggesellenselig!
Lolott prüft ihre Staatsfigur
und geht befriedigt auf die Tour.
Der Arzt liebt außerehlich,
weil er heut keine Sprechstund hält.
Im zweiten Stock - nanu! - nanu! -
sind alle Fensterläden zu.
Im dritten Kinderkreischen gellt.
Dann grölt ein schwerbetrunkner Mann.
Das Fräulein vom Theater
übt ihre Rolle nebenan.
Im vierten wird wer Vater.
Und eine Schreibmaschine tickt,
und ein Kanarienvogel singt.
Vielleicht daß auf dem Dach verrückt
ein Dichter nach dem Glück ausblickt
und in die Wolken springt;
daß drunten gar im Keller tief
ein Mordgespenstlein schneller lief,
das Dynamit gelegt ist,
und eh die Uhr noch einmal schlägt,
alles, was diese Straße trägt,
als Staub ins All gefegt ist!
. . . Schon zündet einer vis-ä-vis
die erste Lampe. Diebe gehn
mit ihrer Beute heim. Nichts schrie,
nichts liebte, nichts war Poesie.

Man wird jetzt nach dem Nachtmahl sehn.
Und morgen früh
ist Montag.


12. 02. 1923

Entführung

»Liebe mich! Lebe mit mir!«
Sprach das ein Schatten der Nacht,
sprach das ein Fabeltier,
von dessen Gescharr ich erwacht?
Zimmerdecke schwankt. . .
Stößt sie ein Dämon im Zorn?
Was dort der Lichtschein umrankt,
ist es des Mondenen Horn?

Lautlos erschüttert der Ruf
jetzt mich zum anderen Mal,
und der stählerne Huf
schlägt einen Feuerstrahl
aus der Schwelle Gestein,
eh ich noch sehend bin.
Jäh von der Träume Wein
Trunkenen reißt es mich hin.
War es anfangs ein Spiel,
das um den Einsatz bangt,
Harfe klang, ich verfiel
ihr, die nach mir verlangt.

Wiehernd mit höhnendem Schrei,
trägt mich als Beute fort,
an Kindheitsinseln vorbei,
brennendem Heimatsort,
dem Schaffot und der Schlacht,
Meer versinkt, Hügel und Bucht. . .
Letztes Sternblinken der Nacht
bleibt dein Blick, der mich sucht.


14. 02. 1923

Ungelebtes Leben

Was einst war und versank,
nie hab ich's ganz gelebt:
griff meine Hand nach dem Trank,
war schon der Becher entschwebt.

Dachte ich, daß er mir bleibt,
war er äonenweit fern.
Was man auch träumt und schreibt,
kennt nur den eigenen Stern.

Kennt mir das Leid und die Scham,
wenn aller Segen versagt,
wenn Reue flügellahm
eignes Verschulden beklagt.

Stille war mir bestimmt,
Werk und Ewigkeitsdank;
aber kein Herz vernimmt,
was einst war und versank.

Was ich halb nur erlebt,
wurde verstummender Spuk.
Not und Erfüllung entschwebt
dem, der kein Leben ertrug.


18. 02. 1923

Die Vergeltung

Ganze Straßen sind immer ins Dunkel versunken,
ganze Städte von keiner Sonne geküßt,
Millionen Menschen von Glück und Liebe nie
          trunken.
Aber andern aus einem winzigen Funken
wächst des Freudenfeuers Riesengerüst.
Ihre Hügel sind immer von Düften zerrüttet,
ihre Frühe löst kein umschlungenes Paar:
hat ein Vulkan die Selige Insel verschüttet,
einmal doch war sie von Rausch und Frühling
          laubhüttet,
nahm sie am Abend den Glanz der Gestirne wahr.
Doch die andern müssen in Roheit verkommen
und von Morgen zu Morgen plagt sie die Fron. -
Dort ist zumindest das Traumboot ins Südmeer
          geschwommen,
hat eine Nacht zu Urwäldern mitgenommen,
und sein Lied ist in den Leichtsinn entflohn.
Jene aber sehn Sterne nicht einmal fallen,
ihre Stuben wissen vom Himmel nichts,
ohne Echo verstummt ihrer Kinder Lallen,
und schon wanken sie alt in Arbeitshallen,
von Geburt beraubt ihres Augenlichts.
Sie dürfen ihr Lebenswrack nicht verlassen,
das durch die Nacht des Elends treibt.
Färbt sich ein Fest in italienischen Gassen,
wird sein Gerücht für ihr Herz nur zum Hassen,
das als Blitz in der Wolke bleibt.
Aber aus tausend winzigen Funken und Funken
wächst des Rachebrandes Riesengerüst:
dann sind endlich auch sie vom Blutrausche trunken,
und ihre Gruben, solange im Dunkel versunken,
hat des Weltunterganges Sonne geküßt.


19. 02. 1923

Dichterehe

Über mir wird Geburtstag gefeiert von grölender Sippe,
jedenfalls singt man immer »hoch soll er leben!«
Ich hocke fröstelnd in Decken gehüllt, ich krieg wohl
         die Grippe,
der Weihnachtsschnaps ist längst zu Ende und nehmen ist
         seliger als geben.

Ich soll etwas schreiben, aber woher stehlen
         in dieser Laune!
Rauchen ist auch kein Ersatz, den Geist zu erregen.
Die Frau kehrt heim, ich brech' einen Zank vom Zaune,
wir keifen, mir wird warm. Mag sie sich schlafen legen!

Weinend steigt sie ins Bett. Nun kann ich dichten!
Ihr Kummer beflügelt meinen Reim und meine Prosa.
Morgen früh werd' ich schon wieder alles zum besten
          richten,
das Werk ist unter Dach, sie bekommt ihr Deputat,
          und der neue Tag beginnt rosa.


19. 02. 1923

Der Jäger

Spät geht er aus, das Mordzeug auf dem Rücken,
zu fangen, was im Schutz der Nacht sich glaubt.
Früh kehrt er heim, mit rohen Fleisches Stücken,
den Rock beblutet und die Schuh bestaubt.

Tagsüber schläft er ruhigen Gewissens,
als hätte nie die Hand ein Herz erwürgt.
Das Nachtmahl nimmt er, sicher jeden Bissens
gewärtig, den sein Handwerk ihm verbürgt.

Stumm sitzen seine Frau und seine Kinder,
als sähen sie an seinem Munde Blut,
wie Mitverschworne in der Wohnung Höhle.

Da lacht er laut. Grausigen Alps Gegröle
scheint's ihnen und verzerrte Mörderwut.
Er hört verständnislos ihr Schimpfwort: Schinder!


19. 02. 1923

Verse

Mein Kopf hat Krämpfe,
die dein Herz nicht glaubt.
Deiner Weltfahrt Sänfte
ist kaum bestaubt.

Wenn du heimkehrst,
versink ich im Dunkel.
Die Sterne funkeln
über dem Weinberg.

Die Wolke hüllt beide:
Selige und Schacher.
Aus deiner Lust
und aus meinem Leide
wächst der Rächer!


19. 02. 1923

Ahnung

Mir werden soviele Gedichte,
als war' ich dem Tode nah,
als zögen die großen Gesichte
vorbei meinem Golgatha.

Du schläfst wie die Jünger am Hügel,
als Er mit dem Grauen rang.
Mein Lied hat unendliche Flügel
und wittert Untergang.

Und rafft noch einmal zusammen
alles Lebens Wonnen und Wahn.
Und morgen begraben die Flammen
unsern Traum- und Liebeskahn.


19. 02. 1923

Der Unwirkliche

Über seiner Stirn zieht ein Schiff nach Indien;
doch er sieht es nie, blind sitzt er gebückt
auf den Traumvisionen seiner sündigen
Sehnsucht, die sich in Sümpfe drückt.

Seine Finger spielen auf den Knien Vermählung,
die Koralle fühlt er blühn in seiner Brust,
und er lauscht der heimlichen Erzählung,
die ihn täuscht mit märchenhafter Lust.

Tanzen wähnt er die gelähmten Füße
und bevölkert seiner Öde Föhn,
dichtet sich wollüstiger Küsse Süße
in der eignen bangen Brust Gestöhn.

Wenn das Leben jäh sein Traumwandeln riefe,
fiele er ins Abgrundmeer vom Riff.
Unter seinem Lid starrt die Höllentiefe,
über seiner Stirn zieht das Märchenschiff.


01. 03. 1923

Kampf einer Nacht

Der Abendwind harft seinen Gram in den Schlaf,
aus dem Baum vor dem Fenster fällt Laub auf sein Bett:
Damit spielt sein Traum. Unterm Todestor traf
der Engel sich mit dem Skelett.

Sie ringen um einer Seele Gewinst,
die arglos schlummert von Wundern umzirkt:
mitleidiger Spinne Zufallsgespinst
zu des Schläfers Höhle den Zugang verbirgt.

Eine Fliege flirrt klagend die Scheibe entlang,
der Mond wirbelt Wolken um sein Gesicht,
ein Schatten harrt im Gartengang,
daß Zärtliches der Brunnen spricht.

Skelett und Engel würgen sich,
ihr Ächzen kratzt sich in die Wand.
Der Dunkle, der die Stadt umschlich,
steht still und sieht sein Heimatland.

Und raubt nichts als das Rosenblatt,
das du verlorst aus deinem Strauß -
die Kämpfer auf der Schädelstatt
versanken. Himmlisch wächst dein Haus.

Es schwebt so groß in Nacht und Früh,
als ob es in den Wolken sei.
Deines Erwachens Melodie
wird blühend weit und hell und frei.


03. 03. 1923

Apokalypse

Die Dschunke der Ungeduld geistert übern Rauch
unzähliger Altarfeuer, wo Ohnmacht opferte.
Brennen die goldnen Schnüre, stürzt ein Traum vom
         Himmel
in die Blutstraße der Jahrhunderte.

Rastet der uralte Wandrer am Grabmal
seines Vaters, der jung sich ins Untal verirrte,
hält das Gehall der Sterntänze inne,
verstummt der Sturm, der verwunderte.

Orgel der Sonnenfugen vergeht wie ein schüchterner
          Hauch,
wiederholt sich die Stunde, da Gott seinen Sohn opferte,
verbrennen heilige Schwüre, versinkt der unsterbliche
         Schimmel,
den Helios an sein Gespann schirrte.

Übergoldet vom Morgen frohlockt die Zinne
des Glockenturmes, wo Ahasver sterben darf.
Sintflut steigt. Kein Vogel singt, keine Blume spricht.
Helligkeit blendet weithin wie ein Schwert geschliffen.

Der Tod beklagt seine Einsamkeit mit zagem Geharf,
verlornes Mörderglück liegt ihm im Sinne,
er schreitet klagend in die Flut, die über ihm die Hände
          faltet im Weltabendlicht
und dann sich weiß jungfräulich glättet den aus neuer
          Schöpfung weiß hertreibenden Erobererschiffen.


04. 03. 1923

Lied eines Wartenden

Fremd im Flur ist der Schritt,
den ich als deinen erträumte -
war, was an Angst ich erlitt,
Sühne fürs einst Versäumte?

Weil ich nicht zärtlich empfing,
was deine Liebe mir bot,
weil ich fern von dir ging
schwärmend im Abendrot.

Ob eines Festes Exzeß
jetzt dich triumphisch entflammt?
Aber ich, fiebernd indes,
bin mich zu ängsten verdammt!

Im Schattenbecher nur
der Willkommentrunk schäumte!
Fremd sind die Schritte im Flur,
die ich als deine erträumte.


04. 03. 1923

Die unendliche Versuchung

Vor meinem Lid ein kindliches Gesicht,
der Inbegriff, was ich an Lippen liebte,
das tausendsüß aus Süßestem Gesiebte,
der Blick wie Himmelslicht, die Stirn Gedicht.

Dennoch vielleicht von einem wehen Wesen,
das im verwaschnen Kleidchen klebt im Regen,
kann ungelenk sich häßlich nur bewegen
und fegt der Gosse Dreck mit seinem Besen.

Nur daß es mich ergriff im Zufallswitz,
daß ich die Heimkehr und die Treue scheute
und lieber diese zweifelhafte Beute
mein wüßte als den sichersten Besitz.

Wo stand in diesem Augenblick die Stunde
der Bahnhofsuhr? Was tat die Welt erwarten?
Vielleicht stieg fern ein Paradiesesgarten
aus eines Meeres jungfräulicher Wunde.

Ich aber, ich entwich und wagte nicht,
was hold wie Wahn war, kühn für wahr zu halten;
und doch bestand im Wandel der Gestalten
vor meinem Lid das kindliche Gesicht!

Da ward es mir verhaßt durch sein Verharren,
ich schalt es lasterhaft und mußt' es schlagen - -
mocht' ich ihm auch die schlimmsten Flüche sagen,
sein strahlendes Bestehn hielt mich zum Narren.

Und taucht' ich in die Pfützen mein Gesicht,
mit Schmutz vor der Versuchung mich zu blenden -
umsonst! Mit diesem Irrlicht werd' ich enden:
dem Blick wie Himmelslicht, der Stirn Gedicht!


07. 03. 1923

Ballade letzter Enttäuschung

Aus der Qual der Kranken wühlt sich mühsam
längst vergeßne Trostlegende hoch:
»Und sie salbten ihn mit Öl und Chrysam,
und ihn hoben Engelshände hoch.«

Aus des Katafalkes schwarzen Falten
steigt er steil in der Gestirne Kreis.
»Wird er mich wohl in den Armen halten
und mit Liebesliedern streicheln leis?«

»Oder ist der Dunkelnde ihm über,
der mich überwältigt wie ein Ding,
daß der Strahlende ganz fern vorüber
meinem letzten bangen Bitten ging?«

» Angeekelt von so leichtem Raube -
o, Verachtung seines Blickes schlägt,
mehr als alles: ich versink' im Staube
des Gefährts, das ihn von hinnen trägt!«

Und: »Sie salbten ihn mit Öl und Chrysam«
stürzt als Lüge vor dem Ende ein.
Einen Sterbensheiland graben mühsam
seine eignen welken Hände ein.


08. 03. 1923

Der verlorene Sohn

Keine Fahrt soll dich zwingen, spring' aus dem Zug!
Signal nach Süden ist dir nur Lug und Trag,
Du bleibst deiner Scholle verhaftet, Stromer der Stadt,
die dich entkräftet, entsaftet ausgespien hat.

Dich wirft das Schicksal ans Land wie einen Fisch.
Der stärkere Nachbar stößt dir den Teller vom Tisch.
Die Rose, die dir ein Mädchen am Brunnen gab,
ist längst entblättert, zersplittert dein Wanderstab.

Du gehst wie im Wunder über das steinerne Meer,
geschloßnen Auges, vielleicht geht Gott neben dir her,
doch dein zerbrochner Gang hält mit seinem nicht
         Schritt,
und er weiß wohl schon lang nicht mehr, was sein Sohn
         erlitt.

Einmal führt es heimwärts dem Glockenklang nach,
der doch einst deiner Jugend Bestes in dir zerbrach.
Die Felder, die du verfluchtest, weil ihre Frucht
         dir verwehrt,
rauschen betörend um den, der in Reue heimkehrt.

Vielleicht scherzt dein Vater mit dir, den er nicht erkennt,
mit dem ohnmächtigen Bettler, den Scham verbrennt,
vielleicht hetzt deine Mutter auf dich den Hund,
steht ein Stachelzaun um deiner Kindheit
         Schneeglöckchengrund.

Du vergaßest den Bach, der die Stadt in zwei Lager
         trennt,
ein sattes, ein armes: keiner den andern kennt.
Am Sonntag unter den Lauben zur Kirchgangszeit
ist die Welt leer wie dein Herz. Bist du zum letzten
         Abschied bereit.

Steigst wieder in die Berge, die gütiger als Menschen sind,
kannst guten Gewissens vergessen Freund, Geliebte
        und Kind.
Im Lande, dessen Sprache dir fremd ist, wird dir
        endlich wohl:
Einsiedler, feierst in Schweigen und baust deinen Kohl.


11. 03. 1923

An die Traumlandschaft

Wo bist du, Landschaft, die mein Traum durchstreift,
du, ohne Mensch und Tier, geheimnisreiche?
Der Morgen, der nach deinen Zweigen greift,
ertastet nur die Wand, die ewig gleiche!

Was schweigend meinen Schlummer bunt umwuchs,
als Wunderwelt windselig und kristallen,
rosig hinschwebend engelhaften Flugs,
ist mit der Nacht ins Meer hinabgefallen.

Verjagt von jedes neuen Tages Laut
entschwand es ganz und stürzte zürnend nieder.
Wo bist du, Landschaft, himmlischer umblaut
als schönsten Märchenvogels Sterngefieder?

Wer darf in deiner inselhaften Hut
jetzt dies Entschweben wohl für ewig nehmen,
um, wüst erweckt, mit ohnmächtiger Wut
gleich mir zu jagen hinter leeren Schemen?

In die Gewöhnlichkeit hinausgedrängt
aus einem Wahn, der zauberhaft beglückte:
wo bist du, Landschaft, die mein Traum umfängt,
geheimnisnahe und mir stets entrückte?


Mitte März 1923

Es bleibt sich gleich

S' ist alles eins: Berlin und Stein am Anger.
Der Mann macht Bücher, und die Frau wird schwanger
Ob etwas mehr, ob weniger Lärm begleitet,
aus gleichem Dreck ist das Produkt bereitet.

Der Unterschied: die Menge der Produkte.
Hier: meilenweite Stadtbahnviadukte,
dort: Rathaus, Markt und Straßen; schnell gezählte,
und jene eine, wechselweis beschälte.

Hier käuflich tausende, geheim und offen.
Doch dort wie hier: ein Glück nur im Erhoffen!
Ein Kino dort - hier tausend Filmpaläste;
doch rührt derselbe Star das Herz der Gäste.

Derselbe Humbug ködert, die dort wohnen:
die Dummheit bleibt sich gleich in allen Zonen,
bleibt Courths-Mahler, Bloem und Roda-Roda.
S' ist alles eins: Berlin und Kötschenbroda.


17. 03. 1923

Ein Sonntag

Einst war doch wenigstens ein Hund bei mir -
Heut geh ich ganz vereinsamt durch die Sonntagsscharen:
Sie schaun auf mich wie auf ein böses Tier.
Und plötzlich bist du stolz an mir vorbeigefahren.

Im Wagen neben dir der Kavalier
sah unbeteiligt lächelnd auf mich nieder,
da holte ich das treuste meiner Lieder
hervor und träumte mich weit fort von hier.

Wann war's, daß ich am Wege Blumen sah?
Wo ist das hin, daß ich sie für dich pflückte?
Ach, diese Felder sind der Stadt zu nah,
als daß der Frühling sichtbarlich sie schmückte!

Wer hier sich Freude holt, eilt wie gehetzt,
ein wenig Scheinlust hastig zu erjagen.
So flohst auch du in deinem stolzen Wagen
und bist unglücklicher als ich wohl jetzt. . .

Ich kehre heim und hab' dich lieb wie einst,
jetzt weiß ich: du bist dennoch neben mir gegangen.
Wenn du dich fern in die Erlösung weinst,
breit' ich die Arme aus, dich wieder zu empfangen.


25. 03. 1923

Ewiger Karfreitag

Vom Sturm sind alle Häuser abgedeckt:
nun stürzen Sterne in das offne Herz der Schläfer.
Am Hügel Nacht, auf Wacht der Wolkenschläfer
hat schon ein wenig Morgenrot an seinen Hut gesteckt.

Schon wird sein Traum zum ersten Vogellied,
erinnert sich der Park an fernes Walderwachen,
und in der Vorstadtgassen trüben Lachen
der Berge Wein sein hochzeitliches Spiegelbild besieht.

Vom österlichen Himmel grüßt Geläut,
die Höfe überhaucht der junge Duft der Wiesen.
Da flüchtet auf der Kirche Marmorfliesen
das Volk der Zwerge, das die Fron des Menschentages scheut.

Denn was im Fluche menschlichen Geschickes
jetzt aufgeschreckt sich bebend löste aus den Betten,
hält feig die Hände hin den Mühsalsketten
und schlägt den Auferstandnen immer noch ans Kruzifix!


27. 03. 1923

Vor einer Fahrt

Wo treibst du hin? Um welchen Glücksgewinn
wirfst du aus meinem Traumgesicht mich Trägen?
Was ich dir bin, hat Flüchtgem keinen Sinn
und flieht schon selbst gestäupt von Schicksalsschlägen.

Die Unheilsfahrt führt den, der sich bewahrt
und sicher wünscht, in haltlos fremde Weiten.
Zu seiner Art war das Zuhaus so zart,
nun muß er ihm und sich und dir entgleiten!

Du hältst nicht auf, was jetzt in vollem Lauf -
von dir gestoßen - stürzt aus deinen Händen.
Schon nähmst du seine Kümmernis in Kauf,
wenn deine Ketten sie allmächtig bänden.

Aber sie rollt wie Gold, von nichts gewollt,
der eignen Sehnsucht feind und jedem Werben,
wird Macht für sich, jenseits von Bös und Gold,
und reißt dich mit und schellt mit dir zu Scherben.


01. 04. 1923

Schicksal eines Mannes

Er weiß nicht, wer sie ist: Mit ihr zu brennen
ist sie bestimmt im gleichen Höllenpfuhle;
er wird sie nie und darf sie nie erkennen sie,
seiner Unterwelt umträumte Buhle.

Dort oben ist Gefährtin ihm die Zarte
in deren Küsse hielt sich keine Treue;
daß er sie ihr so unverbrüchlich wahrte,
enttäuschte stets die Lüsterne aufs neue.

Und drunten wird ihr Widerspiel ihn binden,
denn ihm ist nirgends Innigkeit beschieden,
was er in Schwermut sucht, wird er nie finden:
der mütterlichen Liebe stillen Frieden.

Zwischen der dunklen Schwester und der weißen
muß er stumm duldend ungestillt vergehen.
Und seinem Schicksal wird Erlösung heißen:
fühllos zu werden und zu Nichts verwehen!


Ostersonntag 1923

Einsames Abendwandern im Wald

Durch dich grünt mir der Frühling dieser Hügel,
o, führte er uns näher aneinander!
Wenn ich allein im Abendwalde wandre,
umflattern mich der Schwermut schwarze Flügel.

Ihr Rauschen wird mit dem verwunschner Wipfel
zum Echo aller Seufzer meiner Seele.
Hoch oben schimmert sternhell ohne Fehle
das Licht des Türmers auf dem Bergesgipfel.

Ist er gleich mir in Einsamkeit verloren,
ist er im Glück des Lampenscheins geborgen?
Von seiner Zelle Segen oder Sorgen
führt doch kein Weg zu meiner Trauer Toren.

Sie sind verschlossen jedem Trostbemühen,
und käme es auf gütgem Zauberflügel,
umsonst grünt mir der Frühling dieser Hügel,
läßt du ihn nicht für uns gemeinsam blühen
.


05. 04. 1923

Die Glücklichen

Sie werden von jedem Sterne geblendet,
und stolpern über jeden Stein.
Sie haben keinen Weg vollendet,
trunken macht sie ein wenig Wein.
Dann sprechen sie, was sie nicht glauben,
und glauben nicht, was aus ihnen spricht.
Sie lassen die Weite der Welt sich rauben
und gehn um ein Nichts mit dir ins Gericht.
Sie sind lüstern nach Neuem auf der Suche,
schlafen jede Nacht in anderem Bett,
ihr Werk frißt an deinem Buche,
ihr Reichtum an deiner Armut sich fett.
Ihre Stirn wirft ein Feuerwerk von Zahlen
in den Himmel, der uns alle umarmt.
Die Mitleidsgeste, mit der sie prahlen,
hat sich noch keiner Hölle erbarmt.
Jeder Tag gibt ihnen neue Namen,
jeder Spiegel ein andres Gesicht:
wo ist das Kleid, in dem sie kamen?
Was gestern prunkte, geht heut so schlicht!
Sie stehen zögernd mit euch am Theater
und haben kein Geld zum geringsten Billet;
sie verleugnen ihren Kindern den Vater -
und sitzen plötzlich in Würden fett,
durchjagen das Land, in der Hand die Karte,
geben Feste und werden geehrt,
auf ihrem Schlosse weht die Standarte,
euch ist der Eingang zum Parke verwehrt:
vielleicht sind eure Frauen bei ihnen,
vielleicht wird dort neues Leben verschenkt!

Alles muß ihnen zum Ziele dienen:
es nützt ihnen, wenn ihr im Haß an sie denkt.
Sie haben den Weg zum Tod nicht vollendet,
zu Göttern trunken macht sie der Wein,
sie werden zu glücklicher Blindheit geblendet
und stolpern ins Paradies hinein.


11. 04. 1923

Teuflische Landschaft

Aber Andacht kam in dieser Landschaft nicht auf:
in den Wassern vom Spülicht, Berge standen kahl,
eines zersplitterten Baumes grauenhafter Knauf
widerte im Zwielicht, Quellen schmeckten schal. -

Sumpfige Furten umkrustete Schmutz und Spuk,
Nebel erstickte die Klippen, Wiesen umwuchs Gestrüpp,
und das Brot, das der stumme Einsiedel buk,
zerbröckelte an den Lippen, in den Ästen hing
          Totengeripp.

Wolken verwüsteten einen Flimmel aus falschem Gold,
wo Gestirne erblichen; Mond rollte leer.
Keine Höhle am Hügel, war dem Hunger des
          Einsamen hold,
um die Schluchten schlichen Schatten vom Totenmeer.

Trugen in ihrer Kapsel Botschaft gefährlicher Art,
und ihr Wanderstecken hatte unheimliche Macht;
ihre Gedanken verbarg ein verwunschen dunkelnder
          Bart,
ihre Stimme war Schrecken, ihr Blick Verdacht.

Wem sie winkten, der hatte sein Leben verwirkt,
wenn man sie nicht mehr erblickte, noch waren sie
          Gegenwart,
daß der Zweifler sogar sich vor ihnen verbirgt,
hat der in Träumen Verstrickte in ihre Fratze gestarrt.

Höhnisch weckt ihn ein Schrei, feurig im Tal
          schreckt der Teich,
beinah zur Tiefe gerissen, kläglichen Halt er sucht,
wo er in Dornen hängt, sieht der Fels seinem Feinde gleich,
dieser Landschaft Gewissen ist verflucht!


12. 04. 1923

An eine Gymnasiastin aus Steglitz

Aus deiner Stube siehst du alle Sterne:
was willst du mehr?
So bück dich folgsam übers Buch und lerne
deinen Homer!
Des Gymnasiasten Worte heut im Parke,
vergiß nur schnell:
er klebt ins Album jetzt 'ne seltne Marke
aus Neufch
âtel,
pfeift sich etwas und morgen wird er prahlen,
daß er dich hat!
Hat er dich denn? Schon schmückt er sich mit Zahlen
die Ruhestatt,
der grüne Cäsar! Ach, ein greiser Dichter,
der dich umschlich,
fiebernd umschlich, er blieb im Kindsgelichter
ein Dreck für dich!
Du sahst nur deiner dalbernden Verehrer
Wichs-Pickel-Marsch.
So dresche morgen dir zu Recht der Lehrer
den Säuglings-Arsch!


12. 04. 1923

Für Leni

Die du mein Leben bist,
des Tages Glanz, des Abends sanfte Stille,
der Traum der Nacht, des Morgens junger Wille,
der dir ergeben ist,
auch wenn du es nicht weißt:
sein Gang durchs Feld, sein heimliches Verweilen,
auf Straßen mit den Stadtgehetzten eilen,
fern stummen Bergesgeist,
hastender Bahn entlang,
spricht er doch nur von deinen Zärtlichkeiten
und läßt den Wind als dich neben sich schreiten,
den schmalen Felsengang,
in dem er sich entscheiden muß,
wenn an der Biegung, wo ein Mensch nur Raum hat,
dich oder sich zu opfern Angst sein Traum hat,
sterbend aufzuerstehn in deinem Kuß!


15. 04. 1923

Eines Kranken Sonntag

Ich bang in meiner Kammer wie gefangen,
durch Krankheit eingespannt in diesen Bann,
war mit den Wandrern über Land gegangen,
als nur ein Sonnenstrahl zu blühn begann.

In Wahrheit lag ich auf der Ottomane
gramhaft erstarrt, nur noch ein schwaches Wrack,
küßte vor Todesangst feig die Soutane
im Traume dem verhaßten Pfaffenpack.

Der Lärm des Bummelplatzes drang herüber
aus weiter Ferne deutlich an mein Ohr.
Und machten Wolken auch den Himmel trüber
wie gern ging ich im Regen vor das Tor!

In Stürmen und Gewittern selbst zu eilen,
wäre mir lieber und erwünschter nun,
als hier im Warmen angeseilt zu weilen
und in den Kissen ungern weich zu ruhn.

Die Schaukel schau ich in den Himmel fliegen,
das Karussel schleudert auf Sterne fort,
und ich muß hier wie ein Gefangner liegen,
und wäre für mein Leben gerne dort.

Vom Zirkus knallt die Peitsche, hallt das Lachen,
Biergärten baun fürs Volk Dornröschenschloß,
und alle darf der Sonntag selig machen,
so selig, wie ich nie ein Fest genoß!

So selig bin ich nie durchs Feld gegangen,
wenn schönster Sonnenstrahl zu blühn begann.
Mein ganzes Dasein modert wie gefangen
und eingesperrt in einen Todesbann.


17. 04. 1923

Wir wehrlos vor dem gleichen Schicksal

Drohe nicht! Laß nicht die Stunde schlagen,
die jeden verpflichtet!
Wirst du die tödliche Wunde wagen,
die alle vernichtet?

Nacht entsteigt der Flasche, der Dämon ist frei.
Du bist sein Sklave:
haftest an seiner Tasche, bist Träumerei
seinem Schlafe!

Und im Teppich die Blume vergiftet dein Fieber,
du langst nach der Lampe Mond:
»Gib mir von deinem Eigentume, du Lieber,
der neben mir wohnt!«

Aber der Nachbar vernimmt nicht, daß du nach ihm verlangst,
legt er auch an die Wand seine Wange,
sieht nicht das Krankenwachtlicht, in dessen Bann du
          schwankst
mit nachtwandlerischem Gefangenengange.

Einsam bleibt er wie du, einsam gleich mir;
daß er des Nahen Angst ahnt,
jagt seines Schlummers Ruh. - Tausende Schlaflose
wir wachen an unser Menschsein gemahnt!

Tückische Mahnung: weil wir gebunden
wehrlos liegen.
Drohe nicht! Du beschwörst nur die Stunden,
die uns besiegen!


21. 04. 1923

Ich spiegle deinen Stern

Du bist so fern. Ich höre nach dir hin
über den Großstadtlärm, über Cafemusik,
die dir nah ist. . . Ich härme mich, daß ich schwieg:
ich hab' dich gern, auch wenn ich Abwehr bin.

Manchmal ist Schnee um alles, was ich will:
Sehnsucht ist eingeschneit, Leidenschaft, Liebesmacht.
Und wie ein Wächter schreite ich durch die Nacht,
aber ich steh vor deinem Fenster still.

Du schläfst so fern. Du träumst in Länder hin
voll Glut und Hafenlärm, voll Matrosenmusik.
Mich schreckt Meer. Hilflos härm' ich mich,
          daß ich schwieg,
und hab' dich gern, auch wenn ich einsam bin.

Ich wünsch' dir Glück. Du folgtest deinem Stern:
auch der mich schmerzt, spiegelt in meinem Herzen sich.
Unsichtbar, zauberbeflügelt begleit' ich dich.
Will es dein Glück, sterb' ich: Ich hab' dich gern!


22. 04. 1923

Lied winterlicher Wehr

Fragst du, warum ich mich härme:
der kann sein Weh nicht verstehn,
den unsagbare Schwärme
von Gespenstern umwehn.

Gram hinterm Spiegel nistet,
Gram schreibt die Tapetenhand,
kein Lächeln überlistet
im Wandbild das Winterland.

Sein Gram wird wahr und wahrer,
schon spüre ich ihn kalt
am Herzen mir, Nachtfahrer
durch endlosen Eiswald.

Ich winke deiner Wärme,
den Sternen, die um dich stehn . . .
Mein Schneegrab schon die Schwärme
welker Gespenster umwehn.


24. 04. 1923

Ein Glück

Vier Flanken Wand mit Bücherwust bestückt:
ein Wall, aus dem es nie Entrinnen gibt.
Und draußen rauscht der Wald, der dich erdrückt
mit seiner Nacht, die keinen Menschen liebt.

Sie weiß sich gern allein in ihrem Haß
und nicht umschwärmt von eines Schmeichlers Lied,
nur bei dem Bach, der ohne Unterlaß
Verwünschung murmelnd ihr zur Seite zieht.

Auch dessen Spruch klingt schon zu glücklich hell,
wo er ins offne Tal des Tages tritt.
Verirrter Hunde hungriges Gebell
bleibt Bruderecho dessen, was sie litt.

Wie dürfte ihrem Graun sich anvertraun,
was allzu gern der Stube Untertan
umhegt sich weiß und wagt nicht hinzuschaun,
wenn in das Fenster starrt der kalte Pan!

Dies blasse Marmorantlitz, das er ahnt
gepreßt vor seiner Scheiben Spiegellicht,
das ihn an alle alte Lockung mahnt
und an den eignen kärglichen Verzicht.

Du fliehst und hast dich übers Buch gebückt
und harrst des Morgens, daß der Spuk zerstiebt:
Wie liebst du dein Gehaus, mit Wust bestückt,
den Wall, aus dem es kein Entrinnen gibt!


13. 05. 1923

Heimfahrt

Ich warte so auf dich. Des Wehres Rauschen
ruft dich herbei. Ich geh, von dir umringt.
Wie sich ein Wandrer aus dem Fürchten singt,
sing ich von dir ein Lied, dem Lerchen lauschen.

Ich möchte wieder schuldlos sein wie Kinder,
daß ich dein Lieben unverwirrt erlebe,
im sanften Traum des Abendhauchs als linder
Nachtfalter deine Schweigsamkeit umschwebe.

Doch zuviel Fremde geistert durch mein Wesen,
in kahlen Landen hastet meine Fahrt.
Will ich uns Hoffnung aus den Sternen lesen,
hält eine Wolkenburg sie streng verwahrt.

So darf ich nur auf deinen Atem lauschen,
aus dem mir Segen oder Bannspruch klingt,
bis mich ein Zug, der deine Lieder singt,
zu Tagen bringt, die nicht mit Träumen tauschen.


20. 05. 1923

Wandlung der Heimat

Seit ich in der Fremde war,
verblaßte der Heimat Glanz,
ist sie selber zur Fremde geworden:
vertraute Au schaut sonderbar,
jungfräulicher Garten vergab seinen Kranz,
Süden ward kalter Norden.

Dort war jeder Morgen froh,
vertröstete Sonne stets
über alles Arge vergangener Nächte;
entstellte Trunk Liebreize roh,
hob silbern neu aus dem Strom Fischers Netz:
schwiegen die Schicksalsmächte.

Meiner bin ich nun gewiß,
ich weiß, daß ich schweifen kann,
wie der Vogel im Himmelsraum wild.
Was mich zurück zur Erde riß,
heimatlich mein Herz noch stets ergreifen kann,
trägt dein Sternbild am Stirnschild.

Du allein kannst wunderbar
mich kränzen mit Maienkranz
und mich zärtlich bekehren zum Norden.
Daß ich in der Fremde war,
gibt welkenden Gärten Traumschönheit und Glanz,
und alles ist Heimat geworden.


Ende 05. 1923

Kehraus

Und ist der Tag zu Ende,
ist das Fest gefeiert:
auf meine leeren Hände
blick' ich und weine.

Keine Liebkosung, nicht eine
ward' mir beschert,
wie ich sie ersehnte.

Fremde gingen durch mein Zimmer,
Freunde schwiegen,
heimgekehrt
war ich heimatlos.

Wer mich glücklich wähnt,
weil ich lache,
mißkennt mein Lachen.
Ich muß immer
dem Geschick erliegen,
mich Schwachen
wirft es, wie es will,
ins Meer der Sorgen.

Ist das Fest gefeiert,
wird es trostlos still
und ich erwache
zum Alltagsmorgen,

zum lieblos bösen Alltagsmorgen.


27. 05. 1923

Maienabend

Ins Maienkirchlein schlüpft die letzte Nonne;
stumm schließt das Tor; die Orgel dunkel rauscht.
Doch ich knie nieder zwischen Mond und Sonne,
von weichgewölbter Wiese blau umbauscht.

Ich hör' das Herz der Welt wie meines schlagen
und streichle brüderlich ihr grünes Haar:
viel Zärtliches können wir zwei uns sagen,
was vor der Städte Spott zu schüchtern war.

Wir sehn nicht, wie die Sonne sich verblutet,
bis uns der Himmel in ihr Laken hüllt,
nun schaudern wir, vom Strom der Furcht umflutet,
daß unser Nachtgeschick sich auch erfüllt.

Doch das ist sanfter als der Tag nur Gnade,
so heil'ges Schweigen, daß der Mensch vergeht,
und über märchenhaftem Steingestade
der Mond als tränenloser Wächter steht.


Ende 05. 1923

Bergwunder

Wenn die Wolken unsern Weg verdunkeln,
alles schweigt, auch du weißt keinen Rat,
Echo schluchzt, und in den Büschen munkeln
Kobolde von zweifelhaftem Pfad,

und ich sehe unsrer Abend Baude
hellen Tisch, ins warme Licht gebaut,
und erwache an der Distelstaude:
plötzlich ist das Rauschen mir vertraut.

Mit dem Bache singend, wechselweise -
traurig kommt vom Echo uns ein Gruß -
hingestreut wie Vögel ihre Speise -
auch der Fels steigt unter unserm Fuß.

Groß zu Grotten ist das Dorf geworden
eine Laube an die Brust uns drückt,
und es knieen an des Bergbachs Borden,
die kein Kirchenaltar hat gebückt.


01. 06. 1923

Der Morgen

Der Morgen kleidet schon die Straßen weiß,
zag zwitschert sich der Park aus seinem Schlafe.
Das Echo stürzt des ersten Menschenschreis
zu neuer Trauer, Trunkenheit und Strafe.

Das heimlich nachts spaziert, das Zwergenpaar,
schlüpft vor dem Sonnenaufgang in sein Zimmer.
Ein Heiligenschein schmückt Obdachloser Haar,
im Laub zirpt ausgesetzten Kinds Gewimmer.

Aus offnem Fenster schwingt vom Glück der Nacht
sich Don Juan zum andern Glück des Tages.
Ein Sterbender seufzt fern: »Es ist vollbracht!«
Die Geißel peitscht des Arbeitsstundenschlages.

Die übernächtigt taumeln vom Gelag,
sind Schatten derer, die zur Arbeit hasten.
Und alle wird ein schicksalsschwerer Tag
mit Reue, Mühsal oder Lust belasten.


14. 06. 1923

Ein Greis spricht zur jungen Frau:

Du hast mir eben noch soviel Liebe versprochen -
kaum daß ich mich wandte, warst du mir entschlüpft.
Nun bin ich trostlos die Straßen entlang gekrochen,
auf denen deine unschuldige Sünde hüpft.

Der Schaufenster Fülle hat soviel von deiner Untreue,
die Süße eines Pfirsichs ist flüchtig wie du.
Die Brocken, die ich meinem Kätzchen hinstreue,
sind wie deine Worte, nicht mehr im Nu.

Ich bin ungern grausam, warum soll ich so Strafendes
          sagen;
heilt es mein Herz, wenn du zu Tränen gerührt
Bessrung versprichst? - Fährst du im Siegeswagen,
strahlst du, der eignen Trauer um Meilen, um Welten
          entführt!

Im Holz meiner Orgel hör' ich den Totenwurm pochen.
Bald bist du erlöst. Kein Schwur dich ans Alte mehr knüpft.
Und hast du dem Toten noch soviel Treue versprochen:
er gibt dich frei. Nur mutig ins Leben gehüpft!


17. 06. 1923

Nacht voll Todesangst

Immer muß ich so sitzen, allein in der Nacht,
unter dem drohenden Ansprung des Todes geduckt,
nur mein eignes Porträt spiegelfremd mit mir wacht,
Seelchen des Lampenlichtes wie meine eigne Angst zuckt.

Einst wird der Tod mich begehren, weil er mich liebt,
wird eine Nacht mich für immer verneinen.
Macht mich nicht morgen, wenn sich mein Feind ergibt,
seine unheilbare Angst vor dem Tode weinen?

Immer muß ich so sitzen, allein in der Nacht,
voll Furcht vor dem Tode, voll Furcht vor des Lebens Morge:
und erstarr' ich zu Stein, geht in Nonnentracht
durch mein hilfloses Entsetzen der Chor meiner Sorgen.

Nie wird der Tod mich vergessen, weil er mich liebt,
sein Dornröschendickicht gibt mich nicht frei.
Wenn die Wolke vor meinen Stern sich schiebt,
zerreißt eine ganze Welt mein unendlicher Todesschrei -

nur an den Friedhofzypressen wehn die Dämonen erlöst
          vorbei.


19. 06. 1923

Triumph des Mordes

Mit einem Fremden das Geschwätz,
mit einem Manne, den ich hasse,
zu dem ich mich herniederlasse
aus meines Traumes Zaubernetz:

Um wieviel Leben es mich bringt!
Vielleicht war dies die letzte Stunde,
vielleicht verstummt in meinem Munde
der Hauch, der ihm sein Stichwort bringt.

Warum verschloß ich nicht das Tor?
Ich hätte ihn ermorden sollen:
Ob Donner übern Strom hinrollen,
in den sein Leichnam sich verlor -

ich stieg gelassen ins Gemach
zurück und schlösse alle Fenster.
Nun mögen draußen die Gespenster
der Rache früh für ihre Schmach

das Kätzchen schrecken, das schon bebt,
den späten Wandrer auf der Brücke; -
doch ich verjünge mich im Glücke,
das von des Fremden Blute lebt!


Ende 06. 1923

Zwei Welten

Du feierst - und ich hör' durchs Telefon
Musik, nach der du tanzest; Gläserklirren.
Ich Einsamer, Erschauernder, den schon
die Mitternachtsgespenster schwarz umschwirren

Ich höre Festmusik und bin verführt,
als glaubte ich an Glück, wie du zu hüpfen;
ich, der im selben Augenblicke spürt
Verlockung, sich am Fenster aufzuknüpfen.

In deiner Stimme klang nur Lebenslust,
gewürzt von einem Reiz koketter Trauer.
Ich aber scheure meine nackte Brust
unselig an der kalten Klagemauer.

Du flirtest rechts und links: »Mein Herr Baron! . . .
«
Vergaßest lange in der Geigen Girren
mich einsam Schauernden, um welchen schon
Mitternachtsgeister voller Mitleid schwirren.


01. 07. 1923

Winterlicher Sommer

Gelb steht das Ährenfeld. In süßen Düften
des Heues irrt der Mensch durchs Wintergrau.
Trauernd vergrub der Sonne Liebesfrau
sich witwenhaft in fernen Sterbegrüften,
wehklagend um die Welt, die einst so holde,
die Frieden war und nun, so bös entstellt,
Giftpfeile nur von ihrem Bogen schnellt,
gierig nach Macht und Stolz und falschem Golde.

Und mir, der soviel Seligkeit versäumte,
verstummt das Lied, und meine Klage schweigt:
heut bin ich auch dem Glück nicht mehr geneigt
und schmähe alles, was ich einst erträumte.
Was nützt das Sternbild mir, hoch in den Lüften?
So einsam ward ich, daß ich keinem trau!
Gelb steht das Ährenfeld. Durchs Wintergrau
irr ich genarrt von süßen Wiesendüften.


05. 07. 1923

Wunder der Allgegenwart durch Liebe

Ich ging mit dir. - Ich ging so sehr allein,
weil schlimmer, als das einsamste Hintreiben,
dies ist: mit deinem Schatten nur zu sein
und dir gleichzeitig fern und nah zu bleiben.

Ich ging mit dir, sprach jedes Liebeswort,
das ich in deiner Gegenwart verschweige;
nun trugen es mißgünstge Winde fort,
daß ich dir wieder leere Hände zeige.

Ich ging mit dir, warst du auch einer Welt,
die mir urfeindlich ist, willig ergeben,
tanztest vielleicht in eines Festes Zelt:
ich fühlte dich an meinem Herzen leben!

Ich ging mit dir. Daß du nicht glaubst, ich weiß,
nicht glauben kannst dem, der sich stets verriegelt
vor deiner Liebeswerbung, der als Greis
sich heimlich nur in deiner Schönheit spiegelt.

Ich ging mit dir. Und jeder spürte dich;
wer mir begegnete, schien dich zu schauen,
durch deine Zatiber nur verführte ich
die Liebenden der allerschönsten Frauen.

Ich ging mit dir. Warst du mir auch versagt,
du warst mir dennoch zum Geleit gegeben.
So fern der Einsamkeit, die nach dir klagt,
fühl' ich dich nah an meinem Herzen leben.


06. 07. 1923

Alle Sterne sterben

Ich trat auf den Balkon, sah in den Stern:
der glückliche kann meinen Blick nicht ertragen,
den haß- und gramverstörten. Er bebte,
versank in die Nacht und ward mir im Dunkel Bruder.

Ich erinnerte mich der Liebkosung meines Vaters,
als er mir etwas Glitzerndes mitbrachte,
weil ich den Stern von ihm begehrt hatte,
und wie ihn meine Enttäuschung weinen machte.

Etwas von meines Vaters Güte schlummert in mir,
will wach werden und wird immer wieder
          zurückgezwungen.
Ich erinnre mich ihrer nur, mich mit ihr zu schmücken,
den Bettler am Weg laß ich darben und die Geliebte
         nach Glück verdürsten.

Immer wieder suche ich Neues, das noch an meine
          Unschuld glaubt,
immer wieder enttäuscht mich der von mir Enttäuschte,
die heimliche Verheißung der Sommernacht lockt mich
          auf den Balkon,
doch alle Sterne sterben, und ich bin ewig verwaist.


Mitte 08. 1923

Die Beglückung

Meiner Eltern Leben blieb eng,
denn sie schämten sich vor dem Glück,
Gottes Wort war zu ihnen streng.
Und mein Weg will zu ihnen zurück.

Da erhebt sich dein Bild, wo zutal
schon ins Dunkel mein Schicksal mich stößt:
ich erwache und bin noch einmal
vor dem Absturz durch Liebe erlöst.

Denn du führst mich zu Höhen empor,
die mein kühnster Traum nicht gewagt,
wo der Gipfelwind mir ins Ohr
Süßes mit deiner Stimme sagt.

Bis ich wieder mir selber verfiel
und in Trübsal und Tücke ging,
daß vor Wiese und Schmetterlingspiel
Schwermut meine Blicke verhing.

Als ich für immer im steilsten Gestein
mich im Hasse verhärten will,
strahlt dein Stern in mein Dunkel hinein,
macht allen Sturm in den Gärten still.

Was an Vergangenem mir feindlich war,
ist vergessen und leichter als leicht,
keine Tiefe mehr voll Gefahr,
keine Sonne mehr unerreicht.

Gott, den die Wolke so lang mir verbarg,
spiegelt der Waldsee mir lächelnd zurück.
Ohne dich wäre mein Leben karg,
und es schämte sich vor dem Glück.


21. 08. 1923

Die Weltverwaisten

Wir sind die Waisen, im Urwald des Lebens verirrrt,
unterm Nachthimmel der ewigen Verdammnis allein
          gelassen,
in unserm Traum und Wachen so verwirrt,
daß wir uns ebensosehr lieben und hassen.

Wenn auf der Steinhalde am Gipfel der Stern zerschellt,
die Bergwiesen welken, die Sprüche der Bäche versiegen
und wir uns, allein in unwohnlicher Welt,
furchtsam aneinander schmiegen:

dann erweist sich, ob recht behält,
wer an Glück, oder wer an Unglück glaubte.
Die Erde vereist sich, die Sonne fällt,
ein Kreuz starrt, der letzte Baum, der entlaubte.

In endlosem Schneefall begraben wird
Wunsch und Liebe, Jammer und Hassen.
Und wir erfrieren, trostlos verirrt,
nach dem Tode noch in ewiger Verdammnis verlassen.


08. 09. 1923

Einsame Flucht

Gehst du fern von mir, wohlbehütet:
jeder meiner Schritte sucht den deinen.
Was ich an dir litt, auszuweinen,
Eifersucht zu sänftigen, die wütet,
find' ich keinen Einsamort, verborgen
und genug verhüllt vor jedem Lauschen.
Denn verraten kann der Bäume Rauschen
feindlichem Gelächter meine Sorgen.

Wo sind Winkel, die kein Mond durchtastet?
Schatten war' ich gern und nichts als Schweigen,
keinem Zauber glückte, mich zu zeigen,
unstet mehr, als der die Stadt durchhastet,
doch bei dir und so von dir gepeinigt,
daß es Glück bedeutete, zu leiden;
wenn es Abend läutete, zu scheiden
aus dem Paradies, mit dir vereinigt.

Und die gleiche Geißel trägt uns beide,
und die gleiche Kühle aus dem Bache
lähmte uns als der Najade Rache,
flöhn wir Herzeleid an Herzeleide,
böser Wolken Böte war wie Drohen,
höhnend blies der Wind aus Vorstadtgruben,
und wir liefen mit den Bettlerbuben
vor den Flüchen »Töte«, vor den rohen. -

Nein, ich träume, der ich einsam flüchte,
einsam unstet und der Welt ein Grauen,
meine Miene ist verhaßt den Frauen,
und die Bäume flüstern Schreckgerüchte
Spiegelt nicht der Teich die Totenfratze
eines, den es ekelt, sich zu sehen?
Unheilvoll die welken Blätter wehen,
unheilvoll huscht übern Weg die Katze.

Keinen Stern erblick' ich, der begütigt.
Nichts hilft, was du littest, zu beweinen.
Jeder meiner Schritte sucht den deinen,
aber du bleibst fern mir, wohlbehütet!


09. 09. 1923

Am Abgrund

Der lacht. Der weint. Der trinkt sein Bier.
Luft weht um alle herzlos leicht.
Wer fröhlich scheint und wer erbleicht:
die Sonne steht, sinkt dort, sinkt hier.

Ich lache, trinke, bin berauscht;
ich ärgre mich an dem und dem.
Ich bin erregt. Ich bin bequem.
Ich bin mit meinem Feind vertauscht.

Dann schlaf ich mich zum welken Greis.
Wenn ich erwache, bin ich tot.
Gläsern umringt mich Morgenrot
in menschenleerem Welteneis.

Oder erwach' ich und bin blind,
und, was ich taste, wäre Nacht
voll Dämonie und voll Verdacht,
in der nur Hinterhalte sind?

Wie lange gibt es mir noch Frist?
Würgt mich die Angst, die schweigend lauscht?
Ich bange, liebe, bin berauscht
dem Rächer, der so nah mir ist!


13. 09. 1923

Herbstschwermut überm Feld

Herbstschwermut überm Feld, verführ' mich nicht,
die du in Abendschleiern schwärmend schreitest!
Göttin der Sterbewelt, berühr mich nicht,
die du im Lied der Leiem mich verleitest.

Kartoffelfeuer, Wind, Andachtgeläut,
seltsame junge Nonne, die ich schone:
bin ich ein Kind, das blind euch Blumen streut?
Ein Greis voll Todeswonne, ohne Krone?

Nein, ich will leben, ohne Glück, nur sein!
Auf leeren Stoppelfeldern, in der Öde,
im Nebelweben, hoffnungslos allein,
nicht jünglinghafter Held, nicht altersblöde.

Berühr' mich nicht, Göttin der Sterbewelt,
noch bin ich nicht bereit, dir nachzuschreiten,
verführ' mich nicht, Herbstschwermut überm Feld,
noch kann dein Sterbekleid mich nicht verleiten!

Noch will ich hoffen, will ich seltsam tun,
als ob mir dieser Lebenstraum genüge.
Das Tor bleibt offen, ewig darf ich ruhn,
sobald ich weiß: vergebens war die Lüge.


19. 09. 1923

Verlorner Sommer, verlornes Leben

Dieser Sommer zerrann mir wie in Träumen,
eh ich ihn recht erlebte, war er verloren.
Nun schlagen die Kinder Kastanien von den Bäumen,
beginnen schon Wiesen und Wälder sich grau zu umfloren.

War ich am Meer, im Gebirge? Was immer ich haschte,
ist gleich welkem Laube verweht und flüchtig.
Die Mädchen und Knaben, die ich jetzt im Spiel überraschte,
fragen mich nicht: »Nach welcher Vergangenheit blickst du,
          Alter, sehnsüchtig?«

Schon verflattert ihr Reigen zwischen den Bäumen,
lassen Erde und Himmel allein mich Toren,
dem sein ganzes Leben zerrann wie in Träumen,
nun ich am Ende bin, weiß ich, es ist mir verloren,
war in Glück und Not ein unseliges Versäumen.

Hätte doch meine Mutter mich nie geboren!


20. 09. 1923

Selbstzerstörung

Es fällt vielleicht einmal
ein Haß über mich her
mitten im grünen Tal,
wo ich fröhlich ging,
oder am Abendmeer,
wo ich eben selig sann.
Schon ist alles Glück eine Last,
schon ist es mir zu gering,
und, was als Fest begann,
ist böser Zwang und Gesang
mißtönig und Lächeln verhaßt,
dem eben mich zu verlocken gelang.
Woher kommt die Verbittrung, woher
überfällt es mich mitten im Tanz,
im Sonnenschein, in der Liebe
einer ganzen Welt, im Spiel
der Zärtlichkeiten, im Glanz
gegenwärtiger, künftiger Lichter?
Warum ist mir ein Glück zuviel
und war eben noch zu gering?
Sah' ich mich selber, was bliebe
ein Wohlgefallen dem Richter,
der plötzlich so streng zu verdammen,
zu strafen sich unterfing?
Der eben noch fröhlich ging,
verurteilt zum Tod in den Flammen
die eigne Hütte im Tal.
Daß er glücklich ist,
kommt dann niemals wieder.
Die eigne Hand
hat ihm zerstört,
das Land seiner Lieder,
den Weihnachtsbaum,
den Kinderchrist,
das Rosenrot.
Bis zum Himmel reicht,
bis zur Hölle nieder
dieser Wüstenbrand,
diese Grabesnacht.

Es fällt vielleicht einmal
ein Haß über mich her,
mitten im Traum.

Bin ich erwacht,
ist alles um mich tot.


22. 09. 1923

Die gnadenreiche Nacht

Es schlürft um das Haus ein verdächtiger Schritt,
zieht enger und enger die Kreise.
Ob ich morgen noch lebe ... ob der Wind
noch einmal die Dämonen entführt
über Dächer und Wolken zu höllischem Ritt?
Ich mache mich klein und leise,
ich lösche die Lichter und kaure als Kind,
das hinterm Schrank versteckt sich nicht rührt.

Da hör' ich den Totenwurm pochen im Kalk,
die Uhr meinen Grabgesang schlagen,
über mir schleichen Verschwörer vermummt,
der Mondschein hat mich ihnen entdeckt,
im Keller harrt schon der Katafalk,
meinen starren Leichnam zu tragen,
die ganze Stadt ist mit einmal verstummt,
jeder Stern mir die gelben Zähne bleckt.

Dumpf schlägt mein Haupt auf der Diele Holz,
flüchtend umkreist mich das Zimmer,
wie Flügel wühlen die Wände im Wind,
vom Schrank wird Buch um Buch mir entführt.
Die Einsamkeit schenkt mir den göttlichen Stolz:
Ich selber schreckte mich immer!
Nun lieg ich beseligt und still wie ein Kind,
das, ein Reh zu belauschen, sich nicht rührt.


23. 09. 1923

Der arme Menschenfeind

Der Menschenfeind ist ganz allein im Raume,
die Wolken weichen und der Himmel flieht,
nichts mag ihn stützen, keinem Lebensbaume
ein Liebeszeichen eingeritzt er sieht.

Kein Stern gewährt ihm, heimatlich zu weilen,
kein Wind nimmt eine Botschaft von ihm mit,
selbst welke Blätter seiner Hand enteilen. -
Nur ich beweine ihn, weil er einst litt.

Ich weiß, er kam bereit, sich hinzugeben;
da standen Wände undurchdringlich dicht,
sein Leben nahm sich Zeit, mit ihm zu leben,
und Fraunhände streichelten ihn nicht.

Nicht einer ging mit ihm ein wenig Schritte,
alle Geschicke mieden sein Geschick,
und keiner hing mit einer Bettlerbitte
an seine Blicke den verlegnen Blick.

Der Tisch, dran er sich setzt, ist leer geblieben,
keine Gespräche gönnten ihm ein Wort.
Was bleibt ihm denn zuletzt, den sie nicht lieben,
als Selbstgespräche am verborgnen Ort?

Was bleibt ihm denn, als seinen Stolz zu pflegen,
sich einzuspinnen in sein dunkles Los,
das wunde, sorgenvolle Haupt zu legen
den Sünderinnen müde in den Schoß?

Sich zu begnügen mit dem fahlsten Traume,
der Mädchenblüte, die am Morgen flieht? -
O Menschenfeind, Welteinsamer im Raume,
du, dessen Güte doch mein Herz nur sieht!


24. 09. 1923

Das Wunder

Nicht die Glocke, nicht das Flötenspiel
eines Einsamen im offnen Fenster
bannt aus meiner Seele die Gespenster,
deren Locken meine Furcht verfiel.

Stumme Masken fühl ich um mich gehn,
lautlos gibt ein Echo ihr Gelächter,
lautlos drohend schon die Weltverächter
vor dem stets versteckten Spiegel stehn.

Und der eine mit umhüllter Hand
schlägt mein gläsern Ebenbild in Scherben,
und ich zähl' die Stunden bis zum Sterben:
bald ist meine Kerze abgebrannt.

Doch ich muß noch sehn, wie er zerreißt
meine Bilder und die lieben Bücher,
wie er sich in meines Lagers Tücher
mit dem blinden Haß der Irren beißt.

Mitleid, unerklärbar groß, verbot,
ihn wie ein verworfnes Tier zu töten:
denn schon führt der Glocken und der Flöten
süßes Spiel den Haß ins Morgenrot.

Alle Schatten hör' ich heimwärts gehn
in die Lebenskerker ihrer Grüfte.
In mein Zimmer wehen Morgenlüfte
rosig mir ans Bett die Märchenfeen.

Alles Holde blüht aus ihrer Hand,
klingend grüßt das Echo ihr Gelächter,
zwingt zurück zum Nichts die Weltverächter.
Ganz vergoldet glüht mein Frühlingsland.


30. 09. 1923

Zwei Welten unter einer Nacht

Arme hocken seit dem Tag auf den Bänken der Plätze,
schmeicheln ihren Jammer in die Kälte der Herbstnacht
          hinein,
die Angst vor der Kammer ohne Lampenschein
belügen sie immer noch einen Stundenschlag
          mit krankem Geschwätze.

Reiche in lichtprunkenden Autos vorübersausen,
um in Sälen voll Himmelsglanz zu sein:
Ozeane ewiger Tageshelligkeit umbrausen
eine Welt nackter Frauenschultern, Seide,
          Musik und Wein.

Dort belügt man sich immer noch einen Stundenschlag
          mit stolzem Geschwätze,
schmeichelt seine Herzlosigkeit ins herzlose Lachen
          des andern hinein,
kämpft geschmeidigen Blicks für den kommenden Tag
          um die besten Plätze,
durchsegelt das Blutmeer in goldnem Nachen ein Götze
          aus Stein.

Aber die draußen, schlägt die Mitternachtsstunde,
lösen sich von den Bänken zerschlagen und wüst,
flechten sich auf kahler Lager Martergerüst
und verbluten in des neuen Frontages ewig
         offene Wunde.


10. 1923

Die Verfolger

In der ersten Frühe, ehe noch
Arbeiter zu den Fabriken trotten,
den Kanalräumer im Gulliloch
Kinder, die zur Schule gehn, verspotten,
noch bevor der Wandersmann aufbrach,
daß vom Berg er Sonnenaufgang sähe,
pirschen sie sich aus dem Schlafgemach
in der Dämmernis Geheimnisnähe.

Zwischen dem noch frischen Schrei
des beginnenden Journalverkäufer
und dem Heimwärtslallen nächtger Säufer
schieben sie sich in das Einerlei
blasser Tage, die sich eitel schminken,
ihrer Torheit wird kein Trost gewiß,
und die Dirnen, die dem Krüppel winken,
blieben mannslos bis zur Finsternis.

Spürten jene die Gefängnisnähe,
gingen sie dem Glanz der Felder nach.
Daß vom Berg er Sonnenaufgang sähe,
steckte er in Brand sein Schlafgemach.
Keine Furcht verkümmerte ihr Gehn,
müd in Gräsern taumeln, macht sie tanzen.
Das Gefild des Sterbenden zu sehn,
halten sich die Alten auf den Schanzen.


21. 10. 1923

Zerstörung

»Heute wäre es schön,
jemanden hängen zu lassen.«
(Isaac de Caffemas)

Ich bin so böse, mich selbst zu zerstören:
mein eigner Haß macht nachts mich kalt.
Du erwachst: mein Atem ist nicht mehr zu hören;
da weißt du, ich tat mir selber Gewalt.

Dein Licht flackert nicht vor meinem Munde.
Meine Hände sind, nicht zu lösen, geballt.
An meiner Brust ist keine Wunde:
mein bloßer Haß machte mich kalt!

Du glaubst ihn noch im Zimmer zu wittern:
Katakombenkälte durchschaudert den Raum.
Du stößt das Fenster auf: draußen zittern
die Büsche geängstet vom bösen Traum.

Schrein Tiere, wild ineinander verbissen;
vom Park der Schuß des Selbstmörders knallt. . .
Nichts zu hören, wühlst du dich in die Kissen;
sie flüstern: sein eigner Haß machte ihn kalt!

Da magst auch du dein Atmen nicht hören,
jagst deinen Schlaf noch warm ins Grab.
Ich bin so böse, die Welt zu zerstören,
mit meinem Tod reiß ich euch alle hinab.


22. 10. 1923

Abbitte

Tat ich dir weh und legte auf dein Leben
Herbstschwermut, gegen die dein Herz sich wehrt:
das jugendliche will in Lenzen schweben,
nun wird es so von meinem Schmerz beschwert!

Ich stehe mit der ganzen Welt in Fehde;
dich liebe ich, dich will ich glücklich sehn.
Doch stets rächt sich an dir nur meine Rede,
im Zorn mußt du verwundet von mir gehn!

So rächt die Welt sich roh an ihrem Spötter,
wenn sie sich lästerlich mit dir entzweit;
mich, den Zerstörer ihrer Lügengötter,
zerstört von ihr geschürte Zwistigkeit.

Wer meine Ohnmacht sah, muß mir vergeben
die Schwermut, gegen die dein Herz sich wehrt:

mir tat ich weh und legte auf mein Leben
den Schmerz, der es verschämt und schnell verzehrt.


26. 10. 1923

Klagelied

Angst und Alter darf ich klagen,
immer trank ich ihre Qual:
schon in meinen Jugendtagen
überschatten sie mein Tal.

Wird mich später Glück verführen,
daß ich mich gerettet seh:
ach, es schließen sich die Türen,
und ich Bettler steh im Schnee.

Greisenhaft wird weiß umkreisen
Leid den Weg, zum Berg hinan,
und als Leisester der Leisen
schweig ich, eh ich noch begann.

Dank kann ich zu keinem sagen.
Einsam geh ich ungestalt.
Angst und Alter zaghaft klagen,
bis auch ihr Geschluchz verhallt.


26. oder 27. 10. 1923

Abschied im Herbst

Wie untröstlich grau
alles ist: Weg, Himmel, Baum und Haus!
Noch die liebste Frau
sieht heut herbstlich welk geworden aus.

Menschen schatten grau an uns vorbei,
daß du fröstelnd an mein Herz dich drängst.
Sterben wir gemeinsam? - Mir ist längst
alles eine eitle Träumerei!

Und ich gehe, wie Gefangne gehn,
schwere Kugel schleppt mein Fuß.
Muß ich mich im Spiegel sehn,
wink' ich mir den letzten Abschiedsgruß.

Müde Geste und ironisch fast.
Nebel dämpft den Schuß. Herbstlaub deckt mich zu.
Rücksichtsvoll als angenehmer Gast
geh ich leise ein zur ewigen Ruh.

Nicht einmal ein Echo wird bemüht.
Schweigen hastet gierig wie zuvor. -
Auch der Mutter Freude war verfrüht,
die mir zuwinkte vom Himmelstor.

Andre Straßen zieht ins Nichts mein Pfad:
noch das hold Vergangne bleibt versagt.
All ihr Lieben, dies ist kein Verrat,
daß mein Schatten selbst kein Glück mehr wagt!

Noch die liebste Frau
harrt umsonst mit welk gewordnem Strauß.
Denn untröstlich grau
wehe ich klaglos zur Welt hinaus . . .


27. 10. 1923

Der Tod

Ich spiele mit dem Tod, ihn aufzuhalten;
er gönnt mir diesen kleinen Trug und lächelt:
er zeigt sich gern in vielerlei Gestalten,
jetzt als die Dame, die sich lässig fächelt
im offnen Fenster, wo die ganze Hölle,
Krüppel und Hungernde vorüberfluten,
es mustert ihr Lorgnon im Steingerölle
das Kreuz, das Weltenbrände übergluten.

Dann nickt sie mir: »Wir sehen bald uns wieder!«
Betupft das Satansangesicht mit Puder.
Ich flüchte mich zum dunklen Ufer nieder:
da tönt im Fluß des Totenfloßes Ruder.
Ein Sterbensgruß weht stöhnend aus den Wellen.
Wie soll ich Todgeweihter glücklich scheinen!
Ich seh ihn stets! Ich kann mich nicht verstellen!
Er droht aus Rosenduft und Kinderweinen.

Er schmückt sich gern mit immergrünen Kränzen,
er zeigt sich oft in lieblichen Gestalten. -
Doch in der schönsten Sommerstunde Glänzen
wird seine kalte Hand mich herrisch halten.


Ende 10. 1923

Der Soldat

Den ich erwarte, er hat mich verraten;
den ich verachte, er drängt sich ein:
kam im verhaßten Gewand der Soldaten,
bringt Mordgeruch in mein Zimmer hinein.
Einst weiß kein Stern mehr von meinen Taten,
wird meines Tages kein Abglanz mehr sein -
nur die verhaßte Gestalt des Soldaten
setzte sich groß in mein Zimmer hinein.
Stahl dem Toten, gewohnt zu stehlen,
Bücher, die sie niemals versteht,
niemals erlebt! An Allerseelen
ihr Paradeschritt übers Grab mir geht.
Glaubt mit dergleichen sich Ruh zu erkaufen:
einer Papierblume, einem Stümpfchen Licht.
Wird hernach meine Seele versaufen,
wischt um den Arsch sich mein liebstes Gedicht.
Lange sitzen sie in der Kantine:
er erzählt, wie er mich damals gequält;
wie mit Fett gesalbt glänzt seine Miene,
hat er sich doch meiner Erbin vermählt!
Die erwartet ihn zuhaus mit dem Braten:
diese Nacht woll'n wir lustig sein!
Bett und Lampe hat mich verraten,
alle Welt gehört den Soldaten,
nur ich Toter bin mein, bin mein:
»Ich bin Stein . . . mein Herz ist rein . . .«
sing ich im Engelschor der Kastraten. -
Füllt der Soldat meine Stube aus,
steht kein Stern mehr über dem Haus,
bin ich verkauft und verraten!


29. 10. 1923

Tödliche Nacht

So eisig ist das Schweigen dieser Nacht
und dringt durch jede Wand zu mir herein,
daß es mich wie in Frösten zittern macht. -
Und wo magst du in ihm verloren sein?

Ich spüre alle Seufzer dieser Welt,
der Menschheit Hunger hält mein Herz umschnürt.
Der Hund im Kohlenhofe trostlos bellt. . .
Wohin hat deine Sehnsucht dich verführt?

Vielleicht ein Kätzchen auf der Treppe saß,
verirrt und obdachlos, aus Angst ganz still,
weil ich die Tür zu öffnen heut vergaß.
Auch du fühlst nicht, daß ich dir helfen will!

Hier sind nur Häuser, Stein an Stein gestellt,
Gefängnis einer Stadt, die kühl umschnürt.
Kein Bach ins Freie tanzt. Der Hofhund bellt. -
Hast du mein Suchen deiner Spur gespürt?

Erinnerst du der Sommernächte dich,
der Bergbach rann, du winktest vom Balkon,
mir Singenden, der ins Gebirg entwich . . .
Klang jetzt wie Echo nicht des Autos Ton?

Bringt es dich wohl zurück? Ich hab' gewacht,
mir soll kein Morgen mehr verloren sein!
Umsonst: im eisgen Schweigen dieser Nacht
sollen wir Einsamen erfroren sein!


07. 11. 1923

Gebet

Falte dich um mich wie der Kelch einer Blüte,
trage in dir das Sanfte meiner Art,
daß entwütet alle verhüllte Güte
strahle wie eine Nardenschale zart!

Dir ist gegeben, mich gut oder gestaltlos zu machen,
Gegenwart oder Zukunft blutender Wein,
meinem Leben, dem haltlos schwachen,
die hart schmiedende Glut zu sein.

Mich zu quälen, daß ich nicht verderbe,
fruchtlos verrecke und vergeh,
die Jahre zählen, bis ich sterbe,
an der Ecke ein stotternder Bettler steh.

Die Faust gegen Autos erhebe und wüte,
verkrampft in ewiger Höllenfahrt. -
Falte um mich den Kelch deiner Blüte,
halte das Sanfte meiner Art!


11. 11. 1923

Abschied

Wo werd' ich heut in einer Woche sein?
Werde ich hungern, werde ich frieren?
In der fremden Stadt in den Hurenquartieren
Wein trinken bei rotem Ampelschein?

Wird ein Grammophon mir die Melodie,
die uns gestern so beglückte, bescheren?
Werd' ich sehnsuchtskrank nach dir mich verzehren,
meine Hand auf der Dirne nacktem Knie?

Streift ein Regen von fremden Häusern das Kleid,
daß sie uns bekannten Häusern gleichen?
Macht mich zum Clown ein Klingelzeichen:
ich scherze, zerrieben von Herzeleid.

Wo wirst du heut in einer Woche sein?
Wirst du hungern, wirst du frieren?
Du denkst an mich; fürchtest, mich zu verlieren.
Du bist allein. Ich bin allein.


08. 12. 1923

Hoffnung auf Wiedersehen

Wenn ich dich wiederseh nach Tagen,
die reich an Gram wie Jahre waren,
soll alles Weinen, Weh und Klagen
nicht sein im Duft von deinen Haaren.

Was ich erlitt, ist dann verblichen,
versinkt in deiner Stimme Klingen,
Strophen der Not sind ausgestrichen,
wenn wir gemeinsam Frohes singen.

Kalte Zimmer, feindselige Mienen,
Angst um dich, Furcht vor dem Sterben,
Kellner, die mich verdrossen bedienen,
Kinder, die meine Freude beerben:

Ich werde brutal in all dem Brutalen,
fern von dir wandle ich mich zum Barbaren,
werde in schrecklichen Bierlokalen
Spießer, wie meine Väter waren.

- Spießer, die dennoch gramvoll waren,
die nicht hoffen konnten, nicht wagen! -
Kehr' ich heim, stirbt in deinen Haaren
alles Klagen aus fremden Tagen,

wird unsrer Liebe Nachtigall schlagen!


 

 

zurück zu Max Herrmann-Neiße - Gedichte 1900 - 1923

zurück zu den Gedichten von Max Herrmann-Neiße