Gedichte 1920

Gedichte

1920

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Straußenjäger

Der Polizeigott

Der kein Genügen fand

Ach, was hat das Kind für 'nen Papa!

Die Pastorstochter

Jeh man mang de Linden!

Junges Gemüse

Attraktion!

Lenz-Ouvertüre

Durch welche Höllen muß ich nun noch gehen ?

Simson und Delila

Befreiungen

Du meines Frühlingsabends Frieden

Verlorne Heimkehr

Neue Fahrt

Du brauchst für dich Betrübnis nicht zu fürchten

Auf diesem Pfade kann ich dir nicht folgen

Der Gnom

Höllenfahrt - Himmelfahrt!

Liebeskummer im Theater

Letzte Nacht

Trügerisches Dasein

Liebesstrophen

Mein Leben

Stummer Dulder

Der nie Gesegnete

Der fruchtlos Brünstige

Lied eines Verlassenen

Am Ende der Welt

Engel der Zärtlichkeit

Verhängnis

Versunkne Paradiese

Verlorner Sommer

Stern, der durch mein Fenster trat. . .

Studentin der Medizin

Besiegt

Die Hand verdorrt mir

Ich gehe einen schweren Weg

Lied

Wenn ich dich nicht in meinem Leben wüßte. . .

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Mitte Januar 1920

Straußenjäger

Eh' die Brüder Strauß geborgen,
war die Polizei voll Sorgen,
skrupellos benutzten jene
jede Maske, jede Szene.

Ach, sie waren gänzlich sündig,
über allen Anstand findig,
hatte man sie fast erwischt,
war es wieder einmal nischt.

Immer wieder neunmal schlauer,
machten sie das Leben sauer
unsern lieben Straußenschützen,
die vor Wut und Eifer schwitzen.

Und die offenkundig kamen;
Straußens, feig, mit falschem Namen
waren über alle Dächer
längst - so handeln nur Verbrecher!

Jeder andre kommt zur Stelle
in die ausbruchssich're Zelle,
legt geduldig seine Hand
in der Fessel Zweckverband.

Auch, da nun das Paar geborgen,
bleiben dennoch tausend Sorgen,
Tag und Nacht vor den Verdammten
wachen weiter die Beamten.

Hoffentlich verknackt der Richter
schön zum Tode das Gelichter,
daß der Polizeistaat stad
wieder seine Ruhe hat.


Mitte Januar 1920

Der Polizeigott

Sogar die Kriminaler erheben
sich nun und begehren mehr Freiheit, sie auch!
So nur würde ihr mühsames Leben
dienstfreudiger: Freiheit im – Waffengebrauch.

Nichts dürfe mehr ihren Eifer lähmen,
ungehemmt: Hände hoch, Kugel in'n Bauch!
Auch daß sie höh're Pensionen bekämen
und vor allem: mehr Freiheit im Waffengebrauch!

Keine Ichsucht: nicht der Polyp nur führe
den Dolch in der Brust, die von Tatendrang brennt;
auch jedem braven Bürger gebühre,
dem Bürger, dem braven, ein Mordinstrument.

Auf daß sie gegenseitig sich schützen,
Bürger und Würger Hand in Hand,
und weiter besitzen, was sie besitzen,
in ewig gesichertem Ruhestand.

Die doofen Juristen, waschlappig milde,
machen vor jeder Notwendigkeit schlapp;
wie wär's, wenn man eine Strafkammer bilde
aus lauter Polypen: Abteilung »Kopf ab!«?

In dieser Kammer sei alles polizeilich:
Zeuge, Sachverständiger, Staatsanwalt
besetzt von Kriminalbeamten; gedeihlich
wird alles berufsfroh zum Tode verknallt.

Der Ämter Fülle bringt gedeihlich
auch einen universalen Gehalt:
als goldnes Kalb thront dreieinig heilig
Zeuge, Sachverständiger, Staatsanwalt!


26. 01. 1920

Der kein Genügen fand

So wie der Anfang war, so ist das Ende:
sein Weihnachtsengel steht mit leeren Händen,
und über ausgestampften Liebesbränden
welkt seiner Jahre jähe Schicksalswende.

Der Springbrunn vor des Hauses Mund versiegte,
er, dem die hellsten Schellen nie genügten,
und dessen Träume keinem Joch sich fügten,
ist glücklich, wenn sich ihm ein Blatt anschmiegte.

Ein welkes Blatt der welken Hand des Alten,
daß er sie wie zu Zärtlichkeiten halte,
und daß in seinen lang verfallnen Falten
sich noch einmal ein letzter Glanz entfalte.

Und seiner Stirne Lieblinge verwildern,
der Bücherreihe liebe Rückenschilder,
mit irren Blicken vor vergilbten Bildern
sitzt er, und sein Erinnern sinnt sich milder.

Mild rinnen Tränen auf die Pergamente,
die ihm dereinst die schönsten Strophen gönnten,
als ob das Feuer noch verstohlen brennte,
dem Phönixfittiche entströmen könnten.

Als ob noch einmal ein Begehren wende
verklärt die jungen Augen und sie fänden
vor Menschen Gnade nicht - so steht das Ende,
wie einst der Anfang stand: mit leeren Händen.


Ende Januar 1920

Ach, was hat das Kind für 'nen Papa!

Ach, was hat das Kind für 'nen Papa!
Seit dem Abend ließ er nischt mehr hören,
seit dem Abend, wo mir das geschah,
daß ich ihm mein Herz in allen Ehren -
Ehren schenkte, und der doofe Schuft
is noch in derselben Nacht vaduft',
nich mal das Hotelgeld ließ er da.
Ach, was hat das Kind für 'nen Papa!

Ach, was hat das Kind für 'nen Papa:
als wir in den Amorsälen saßen,
kriegte ich mit der Eufemia
Krach um seinetwilln jewissermaßen,
massen ich in Eifersucht jeriet
grade bei det schöne Czardas-Lied,
weil ich seine Hand vaschwinden sah -
Ach, was hat das Kind für 'nen Papa!

Ach, was hat das Kind für 'nen Papa!
Als Eufemia und ich beschwichtigt,
merkt er, daß sein Portemonnaie nicht da,
heulend hab ich unsre Schuld berichtigt,
richtig trank ich doch den Sekt zu schnell.
Ich erwachte einsam im Hotel,
nich mal seinen Namen weiß ich ja,
ach, was hat das Kind für 'nen Papa!

Ach, was hat das Kind für 'nen Papa!
Diesmal hatt ich wohl keen rechtes Glücke,
unsre Herzen waren sich so nah,
und er ließ mir nischt davon zurücke,
als das alte Amorsaalbillet,
das schmückt mein verlaßnes Kabinett,
wo die innre Stimme ruft: »Papa!«
Ist vielleicht in diesem Saal ein Echo da?


Ende Januar 1920

Die Pastorstochter

Ein Pastor, ja, ein Pastor war mein Vater
und ich die älteste von zwölf Geschwistern;
jetzt bin ich im Columbia-Theater
die jüngste von den sieben Browning-Sistern.
Come on, come on, ich schwing mein Bein,
ich sing das Lied vom Niggerlein.
Ambition hin, Ambition her,
jetzt dien ich dem Verkehr!

Ein Ausziehpuppenspiel tat mir bescheren
ein Onkel einst. Papa hat mir's genommen.
Und als ein Wunder lernte ich verehren,
daß jährlich die Mama ein Kind bekommen.
Come on, come on, ich schwing mein Bein,
ich sing das Lied vom Niggerlein.
Ambition hin, Ambition her,
jetzt dien ich dem Verkehr!

Zu tanzen war mir gleichfalls streng verboten,
bis einst ein junger Kandidat versprochen,
mir beizubringen den Betrieb nach Noten
in einer Nacht; aus dieser wurden Wochen.
Come on, come on, ich schwing mein Bein,
ich sing das Lied vom Niggerlein.
Ambition hin, Ambition her,
jetzt dien ich dem Verkehr!

Mein Vater starb am Schlag. Der Kandidate
ist Sittlichkeitsapostel jetzt in Bremen.
Und wer hier gleichen Ehrgeiz hat, dem rate
ich Unterricht bei mir darin zu nehmen.
Come on, come on, ich schwing mein Bein,
ich sing das Lied vom Niggerlein.
Ambition hin, Ambition her,
jetzt dien ich dem Verkehr!


24. 02. 1920

Jeh man mang de Linden!

Der Eisenbahner Schmidt fährt heut den D-Zug
und kommt vor morgen Mittag nicht zurück. -
Als jäh ein hastges Pochen ans Entree schlug,
bekam die Ehefrau den feuchten Blick.
»Der fremde Onkel, welche Überraschung!
Karl, gib die Hand ihm, wie's ein artiger Knabe
tut, dann mach dich fertig und verschwinde rasch, Jung!
Geh an die Luft! Bewegung ist dir gut.


Jeh man mang de Linden,
sehn, was los ist!
Was wird sich schon finden,
wie's und wo's ist!
Irgendeinen Fez
gibt's bei uns doch stets;
s'is ja janz ejal,
Hauptsach: s'macht Skandal!
Ob Studenten oder Militärs:
Wir stehn stets im Zeichen des Verkehrs!«


Die Herrn Minister sitzen am Diner-Tisch
von Volkes Gnaden bei der Wonne-Gans.
Da plötzlich, grad beim schön gebacknen Seefisch,
verdüstert sich der Laune Sonnenglanz.
Die Meldung kommt: Das Volk will demonstrieren.
Der Wehrminister schreit erbost: »Det Lausepack!«
Er wendet sich zu seinen Herrn Offizieren:
»Alarmbereit! Heut wird ein jroßer Tag!


Jehn se mang de Linden
sehn, was los ist!
Was wird sich schon finden,
wie's und wo's ist!
Irgendeinen Deetz
trifft der Säbel stets.
Der Verletzten Zahl
s'is ja janz ejal!
Handjranaten und Maschinenjewehrs,
das sind meine Zeichen des Vakehrs!«


Der junge Herr von Rentlow ist kein Lumen,
s'bangt nur mit Gott für König und für Vaterland.
Der Krieg bricht aus. Er zieht ins Feld zu Sieger-Rühmen,
schießt, sengt voll Schneid. Hält im Kasino stand.
Nun da das alles aus - wie soll er leben?
Ein Gentleman sich standsgemäß zu helfen weiß:
drum hat er bald sich der Marie ergeben;
er kommandiert sie, hält sie an zum Fleiß:


»Jeh man mang de Linden
sehn, was los ist!
Was wirst de schon finden,
wie's und wo's ist.
Irgendeinen Deppen
kannst du dort schon neppen,
s'is ja janz ejal,
bloß sprich erst: Bezahl!
Ob Studenten oder Militärs -
diene stramm zur Hebung des Verkehrs!«


nicht genau Bestimmbar

Junges Gemüse

Ick handle mit Jemüse, Euer Gnaden,
beehren Se mir mal in meinem Laden,
dort finden Se de schönsten jungen Pflaumen,
det Zarteste for den vawöhnten Jaumen.
Ick weiß de Bissens, die den Herren munden:
Feinschmecker nur sind meine ständgen Kunden!


Janz frisch jepflückt un noch nich anjedrückt,
junget Jemüse for ne zarte Zunge,
Frühobst, da hat noch keene Wespe dranjesessen,
immer frische Zufuhr, immer junge,
nur for Kenner, Delikatessen!


Ich käme ooch ins Haus, wenn Se mir schrieben,
denn suchen Se sich aus, janz nach Belieben.
Ick habe Jrienzeug, det vajüngt de Jreise,
für jeden Justo und zu festem Preise,
reelle Ware ohne Jift un Maden,
an meine Pflänzchen nahm noch keener Schaden:


Janz frisch jepflückt un noch nich anjedrückt,
junget Jemüse for ne zarte Zunge,
Frühobst, da hat noch keene Wespe dranjesessen,
immer frische Zufuhr, immer junge,
nur for Kenner, Delikatessen!


Vadirbt ooch manchmal wat in meinem Keller,
reift andres ooch durch meine Obhut schneller,
ick habe meine eijenen erprobten
Mischsorten, die de feinsten Gourmands lobten,
an denen sich de schwächsten Herren stärkten,
det Jüngste, wat es jiebt uff den Märkten.


Janz frisch jepflückt un noch nich anjedrückt,
junget Jemüse for ne zarte Zunge,
Frühobst, da hat noch keene Wespe dranjesessen,
immer frische Zufuhr, immer junge,
nur for Kenner, Delikatessen!


Den Anspruchsvollsten kann mein Kram jefallen,
beliefre doch sogar die Himmelshallen;
wenn wirklich sollte mal etwas passieren,
kann ick den Schaden schnellstens reparieren:
die Früchte, welche unerbeten bleiben,
werd ick diskret nach Engel-Land vertreiben.


Bei Nacht jepflückt und in'n Kanal jeschickt,
davon da meldet keene Zunge,
Fallobst, weg damit, wo de Wespe dranjesessen!
Wieder frische Zufuhr, wieder junge,
nur for Kenner, Delikatessen!


nicht genau Bestimmbar

Attraktion!

Immer ran! Immer ran!
Hörn Se zu, det kost't noch nischt,
haben Se keenen Kummer!
Jleich fängt ne neue Vorstellung an,
Se habens jrade recht erwischt:
de erschte Nummer!
Det jeheimnisvolle Mächen Angnes,
sieht nischt, hört nischt und weeß doch Bescheid,
magst de fragen, wat dir ein- und ausfällt,
Zukunft und Verjangnes,
Hochzeit, Tod und sonstige Jelegenheit,
was erst in neun Monat sich herausstellt.

Immer ran! Immer ran!
Det war erst der Anfang von.
Nummer zwei: Miss Claire,
trägt mit de Neese een janzen Mann,
so eene Konstitution
allens echt, uff Ehre!
Zwee Reichswehrsoldaten und ne Ziege
balanziert se uff der Brust j eschwind,
frißt ne Blumenvase wie Marzipan,
aber keener Fliege,
nämlich milde is se wie een kleenet Kind,
hat se je wat Beeses anjetan.

Immer ran! Immer ran!
Hörn Se zu, nu kommt da Klu!
» Haremsunterhaltung«,
nur für Erwachsene von 16 an,
keene Figur, allens Natur,
Jrazie, Entfaltung!
Fleischmarkt und -Beschauung, wie dort üblich,
Bauchtanz, Pantomime und so fort,
Kunst und Schönheit, jediejen, een Jedicht!
Un zum Schluß wird lieblich
eene Negerjöhre ihren heimschen Sport
Ihnen zeijen - wat, verrat ich nicht.

Immer ran! Immer ran!
Extraabteilung für Herrn.
Sie mit de Jaloschen schaun
Se sich mal det Naturspiel an,
wie sie jewachsen, macht s'es jern,
für fünfzehn Jroschen.
Unempfindlich ist se allernwegen,
zwickst se, kitzelt se, nich muxt det Kind,
wo Se wollen, fassen Se sie nur an,
sind Se nich valejen,
jeder darf dran. Nächste Vorstellung beginnt!
Immer ran! Immer ran! Immer ran!


Ende Februar 1920

Lenz-Ouvertüre

Die Frühlingsvögel singen schon
aus des Abends rosenem Bogen.
Es schwimmt der Venus Liebessohn
auf purpurnen Himmelswogen.

Das Herz der Welt ward wieder warm,
süß klingt es den Wäldern im Blute.
Ein goldner Amorettenschwarm
schwingt der Sterne feurige Rute.

Und irgendfern ist schon der Zug unterwegs
in ihrem Flammenzeichen,
und bringt auf der Brücke des Blumenstegs
das Glück aus den Götterreichen.


14. 03. 1920

Durch welche Höllen muß ich nun noch gehen?

Durch welche Höllen muß ich nun noch gehen
und welche Kreuze noch geduldig tragen?
An wieviel Gräbern schuldbeladen stehen,
wie lange noch mein Herzblut fruchtlos sagen?

Soll ich noch alle Welt verachten lernen
und vor dem Liebsten Abscheu auch empfinden?
Steht einst mein Abendhorizont von Sternen
entblößt und preisgegeben allen Winden?

Ich, der ich kam, ein Liebender zu werden
und die Gefangenschaft der Welt zu kürzen,
soll noch erleben, daß das Herz der Erden
zu Eis erstarrt und alle Himmel stürzen?

Soll noch erleben, daß ich wider meine
eignen Gelübde wüte ohne Gnade,
daß ich der Welt Vernichtung nicht beweine,
sondern die Schuld des Henkers auf mich lade!


18. 03. 1920

Simson und Delila
 

Delila aber sprach zu ihm: Noch hast du mich
getäuscht und mir gelogen. Lieber, sage mir
doch, womit kann man dich binden?



I

Sie hob die Hände, seine Flucht zu hemmen;
doch ihrer Hände Trostgestirn verblich
an seiner Trauer. Tränen überschwemmen
sein Angesicht. Er schluchzt: »Ich hasse dich!

Nie mehr kannst du des Herzens Glück mehr bringen,
der Engel schwand aus deiner Traumgestalt;
der Pfad des Lichts, den wir gemeinsam gingen,
er ward, von dir verraten, schwarz und kalt.

Du spielst mich in das Lachen der Entseelten,
du machtest selber dich zu ihrem Tand - -
was meine Jahre auch an dir verfehlten,
nie gab ich dich in deiner Feinde Hand.«

Sie läßt die Hände sinken. Ach, ihn hemmen
Liebkosungen nicht mehr, wenn das verblich,
was Jahre band. -
                            Dann: Tränen überschwemmen
sein Angesicht. Er schluchzt: »Ich liebe dich!«



II

Er wird wiederkehren,
den du schon beweinst,
wird dich Lieder lehren
schöner, als einst.

Nichts ist ja verloren,
nichts hat dich gekränkt,
wenn er neu geboren
dich umfängt.

- - - Einmal wird betrogen
auch das reinste Glück:
was vereint wir zogen,
war das kleinste Stück. - - -

Einsam sein und trauern
ist: bei ihm knien;
hinter allen Mauern
blühst du für ihn.

Deine Sorgen, Nöte
sind sie noch so schwer,
glühn die Morgenröte
seiner Wiederkehr.

Du wirst wieder lachen
leuchtenden Gesichts;
seine Lieder machen
dein Leid zu nichts.


18. 03. 1920

Befreiungen

Ich löse mich von euch, wie ich mich band:
nachgiebig und um nicht zu widerstreben
dem, was in meinem Stern geschrieben stand,
und löse mich so mählich aus dem Leben.

Doch wird es noch so manche Wandlung geben,
daß ich verlasse, was mit Dank ich fand, -
bis mich ein letzter Abschied einst wird heben
in ein von Menschen freies Liebesland.

Dort ist die Neigung keinem Zwang verpflichtet,
und wer, den Einsamkeiten zu entgehn,
nachsichtig wird und auf sich selbst verzichtet,

wird zwischen Blumen, die sich an ihn schmiegen
und nach gebüßter Lust schuldlos verwehn,
ein schuldlos tausendfältiger Falter fliegen.


27. 03. 1920

Du meines Frühlingsabends Frieden

Du meines ersten Frühlingsabends Frieden,
aus dem ein bös Geschick mich heimwärts zwingt
in eine Stube, wo mir nicht beschieden,
was dem verstörten Herzen Ruhe bringt.

Du wolltest mich durch sanfte Dämmrung führen
in eine Nacht, die alle Angst verwand;
und dennoch zog es mich mit schlimmen Schnüren
zurück ins Netz, in das ich selbst mich band.

Einst klagte ich, den Zwang nicht zu ertragen,
der mich mit fremder Fron gefangen hielt -
Wen eigne Feigheiten in Fesseln schlagen,
hat noch viel schmerzlicher sein Glück verspielt.

Kein Schwärmen ist ihm harmlos mehr beschieden,
aus jeder Heimlichkeit jagt ihn Verdacht,
selbst seines ersten Frühlingsabends Frieden
hetzt ihn in eine gottverlassne Nacht.


28. 03. 1920

Verlorne Heimkehr

Heimkehr ist meiner Verheißungen Fata Morgana
          geworden.
vor meiner Sehnsucht steigt sie mit weißen Kuppeln empor,
warten die Meinen des Einzugs an sonnigen Straßenborden,
grüßt mich der Kranz und die Fahne über dem Tor.

Aber schon senkt sich auf alles ein neidischer Flor,
treibt mich mein Schicksal immer weiter nach Norden,
und der Stern, den ich mir zum Geleite erkor,
scheucht jede Lockung mit drohenden Unholds-Akkorden.

Süße Heimkehr, die immer mein Traum beschwor,
wenn ich mich abseits in Heimlichkeiten verlor,
hab' ich mich unwiederbringlich um dich betrogen?

Bleib' ich einsame Stimme im fremden Chor?
bin ich stets mit dem Herz, das sein Leben lang fror,
nur heimtückischen Trugbildern nachgezogen?


28. 03. 1920

Neue Fahrt

Des Gartens frühes Grün verjüngte meine Jahre,
ich werde wieder Liebender nach langer Winterlethargie:
der Kahn, in welchem ich jetzt nach Cythere fahre,
befrachtet sich mit neuer Melodie.

Schon bebt mein Herz: wen wird es dort zuerst erblicken . . .
aus jungen Büschen tritt vielleicht die Göttin selbst und
          spricht zu mir,
oder wen wird sie mir als ihre Schwester schicken
und mit wie süßem Liede dank ich ihr?

Vielleicht wird dort in einem goldnen Becher
von lieblichen Epheben mir des Zaubertrankes Glut
         gereicht -
oder kommt stumm ein Amor, der in seinem Köcher
den Giftpfeil birgt, an dem mein Glück erbleicht?


29. 05. 1920

Du brauchst für dich Betrübnis nicht zu fürchten

Du brauchst für dich Betrübnis nicht zu fürchten:
dir wurde stets zuletzt in allem Trost.
Einst hat sogar mein Tod dich schon liebkost -
du brauchst für dich Betrübnis nicht zu fürchten.

Wirst du dann auch mein Grab nicht wiederfinden:
ein neues Glück vergangnes gern vergißt;
ich lächle dort, wenn du hier fröhlich bist,
und lasse dich mein Grab dann nicht mehr finden.

Heut magst du solche Wandlung noch nicht glauben,
heut fühlst du nur das Leid in meinem Wort -
Einst weht ein guter Wind Erinnerung fort,
und nur dem eignen Weg darfst du dann glauben.

Und brauchst Betrübnis nimmermehr zu fürchten:
denn Neues blüht im neuen Morgenrot,
und ohne Bitternis grüßt dich mein Tod
und tilgt sich selbst . . . und ist nicht mehr zu fürchten.

Fern ... lächelnd . .. grüßt Abtrünnige mein Tod.


Ostern 1920

Auf diesem Pfade kann ich dir nicht folgen

Auf diesem Pfade kann ich dir nicht folgen,
doch mein Gedenken sendet seinen Engel
dir jeden Schritt zu schützen. Mich verfolgen
indes die Ängste, und mich schützt kein Engel.

Ich bin allein mit meinen dunklen Wünschen,
den unerfüllten und in Ewigkeiten
unstillbaren. Es würgt von dunklen Wünschen
gepeitscht die Furie mich der Ewigkeiten.

Du aber wirst auf weichen Wegen schreiten
und bald geschwisterlich mit meinem Engel,
du selbst durch deine Hingebung zum Engel
verklärt wirst groß in deinen Himmel schreiten.

Zu dem ich hilflos meine Hände hebe:
Du Trostgestirn in meinen Traurigkeiten.


05. 04. 1920

Der Gnom

Er braut sein Gift an fremdem Herd.
Sein Zauberblick mit Blindheit schlägt.
Im Abendrot das Flügelpferd
ihn durch den Sturm der Glocken trägt.

Er hockt im nächtlichen Geäst,
verwirrt der Himmel Widerhall.
Stern löst um Stern. Der Mond verläßt
den Thron. Am Abgrund wankt das All.

Der einsam letzten Kreatur
macht er das schreckliche Geschenk
Unsterblichkeit im Weltentod.

Daß auf der ausgebrannten Flur
des vollen Lebens eingedenk
sie straflos ihrem Gotte droht.


April 1920

Höllenfahrt – Himmelfahrt!

Wer mich verlassen will, hat recht:
da ich verlassen bin von Gott!
Wenn ihr mir eure Treue brecht,
so haltet ihr sie meinem Gott.

Es gehe jeder seinen Pfad -
der meine ging gen Abend längst.
Bedenke stets, was ich dir tat,
eh du dich noch an Menschen hängst!

Und schützt dich dies vor neuem Leid,
so hab' ich etwas doch gesühnt,
vielleicht an meinem Büßerkleid
das Dornenreis noch einmal grünt.

Vielleicht daß Er mir wiederkehrt,
daß du noch einmal mein: in Gott!
Wer so zur Hölle niederfährt,
verläßt sich selbst und findet
Gott.


19. 04. 1920

Liebeskummer im Theater

Wo gehst du, der ich mehr als Menschen sonst
          verbunden bin,
was trifft dich jetzt, von mir unheimlich durch der
          Großstadt Labyrinth getrennt,
wo sinkst auf dunklem Platze du in Blut und Wunden hin,
liegst du in fremdem Hospitale, wo dich niemand kennt?

Ich aber, angstvoll, mühe mich, Gelassenheit
vor einer fremden Dichtung Gaukelspiel zu mimen feig,
nicht aufzufallen - ach, aus fernen Gassen schreit
dein Sterben mir ins Herz! - ich blicke starr in der
          Kulissen Truggezweig,

auf den gemalten Wald, in dem gespieltes Leiden laut
mit schön gesetzter Rede, übertrieben, wie vor einem Spiegel
          stolz sich spreizt -
in dieser Welt voll Hölle können jene sich verkleiden, graut
den Masken nicht vor ihrer Maskenleidenschaft, die sich
          in Eitelkeiten überreizt?

Was kümmert das erlogne Schicksal derer droben mich;
ihr Liebstes wartet wohlbehütet und für sie hat alles
          nur im Spiel gedroht.
Ich aber muß vielleicht, unerreichbar hoch, hoch oben dich
als einen fremden Stern am fremden Himmel suchen
         nun bis in den Tod.


04. 05. 1920

Letzte Nacht

Vielleicht geht einer jetzt zur Ruh,
der mich den ganzen Tag gehaßt;
vielleicht fällt jetzt das Haustor zu
vor einem obdachlosen Gast.

Vielleicht daß fremde Liebe nun
vergebens meine Schwelle sucht,
daß Menschen blindlings etwas tun,
dem dann ihr ganzes Dasein flucht.

Vielleicht ist dies das letzte Lied
vor Weltenuntergang. Nacht steigt
wie Sintflut. Vor seine Augen zieht
mein Stern die Wolke sich und schweigt.


10. 05. 1920

Trügerisches Dasein

Wer seines Lebens Träume lüstern tauscht,
und sich um ihre Gültigkeit betrügt,
erkennt zu spät, daß ihn ein Gift berauscht
und eine kleine Heuchelei vergnügt.

Mit einem Mal ist ihm sein Zimmer fremd,
die Schwere seines Worts lastet auf ihm,
vor jedem Schritt fühlt sich sein Fuß gehemmt,
und das Vergangene tastet nach ihm.

Und nichts von allem hier bleibt ihm dann treu:
die er verriet, so wie es ihm gefiel, dankt mit Verrat;
ein Liebeslied, ein Pfänderspiel und ein ganz neu
erfahrner Tanzschritt ist so ungewiß sein Glück
          wie eine Opfertat.

Die ihn um ihre Gültigkeit betrügt,
und eine Stunde, die nicht bleibt, berauscht.
Zu spät erkennt, daß alle Sehnsucht lügt,
wer seines Lebens Bilder lüstern tauscht.


14. 05. 1920

Liebesstrophen

Daß du bei mir warst in den schlimmsten Tagen,
als ich allen Höllen preisgegeben blieb,
half allein mir Demütigung ertragen,
machte auch im Leid mir das Leben lieb.

Daß du bei mir warst, wenn es mich entstellte,
mit Verzweiflung, Lüsternheit und wütgem Sinn,
wenn die Lästerung mir vom Munde schnellte,
sank sie reuig vor deiner Güte hin.

Daß du bei mir warst in den reichsten Tagen,
als mich unverdientes Glück erbeben ließ,
half mir den Kranz vor dem Gewissen tragen,
der Schuld an fremdem Elendsleben hieß.

Und du warst bei mir noch, wenn ich dich schmähte,
wenn ich dich in mir verriet und peinigte,
was der eine auch je dem andern täte,
wäre fremd dem, was uns vereinigte.

Denn wir halten uns, wenn wir uns vertreiben,
selbst ein Fluch auf dich muß von dir trunken sein,
und du wirst immer bei mir sein und bleiben,
oder meine Welt wird versunken sein.


23. 05. 1920

Mein Leben

Was meine Sehnsüchte ahnend gestalten,
ist nur ein Schatten über dem Land,
glaub ich einmal, das Geheimnis zu halten,
bleibt mir nur Asche in meiner Hand.

Nie darf als Leben und Werk mir gelten,
was kaum dem Rausch der Entstehung genügt,
der unendlichen Wölbung der Welten
ist auch kein Stäubchen von mir eingefügt.

Fruchtlos und unnütz verrinnen die Jahre,
Glück wird wie Unglück verpaßt und vertan,
was mir verhüllt bleibt und was ich erfahre,
birgt nur den gleichen unhaltbaren Wahn.

Wenn ich leichtgläubig auf Künftges mich freute,
desto tiefer enttäuscht es mich bald,
daß ich nur gleich jede Hoffnung bereute,
daß mir nichts fürder erträumenswert galt.

Nichts macht mich froh mehr, nichts darf ich halten,
ob man mich liebt oder ob man mich haßt,
alles endet im gleichen Erkalten,
Glück wird wie Unglück vertan und verpaßt.


17. 06. 1920

Stummer Dulder

Wieviel Enttäuschung mußtest du begraben
verschüttet in dem Schweigen deiner Brust,
vom Kummer deiner wachen Nächte haben
die Träume der Geliebten nichts gewußt.

In ihren Wünschen gleiten glückbeflügelt
die Silberschwäne selgen Inseln zu;
dich aber bringt aufpeitschend ungezügelt
die Ungenügsamkeit um Traum und Ruh.

Oder Verzweiflung lockt in Hinterhalte,
deren Unlösbarkeit zum Narren macht,
wo des Entsetzens ewge Winterkälte
dir alle Hoffnungen erstarren macht.

Sie aber, die du liebst, in deinen Kissen
um ganzer Welten Schicksal dir entrückt,
wird niemals von der Last des Kreuzes wissen,
das dich Verstummenden zu Boden drückt.


24. 06. 1920

Der nie Gesegnete

Er prallt aus dem Schlafe: Sein Mahner erschien,
und verzetteltes Leben, verpraßte Rast
auf der Flucht seiner Sehnsucht ward schmachvolle Last,
und sein Morgen verlor sich entstellt und bespien.

Wieder wird er vor Schönem knien,
wieder als ungebetener Gast
abseits stehn und mit zärtlicher Hast
aus einem Werk zum Stelldichein fliehn.

Wieder wird nichts von all seinem Tun
Erfüllung bedeuten und steter Gewinn,
seiner Verlockung Schluß und Beginn
sinkt wieder zur Nacht ermattet hin
und wird in fruchtlosen Toden ruhn.

Nichts segnet ihn.


02. 07. 1920

Der fruchtlos Brünstige

Nein, dieser Sommer stillt mir kein Gelüste,
mißgünstige Tanten hemmen immerwo,
nicht eine Säugende zeigt ihre Brüste
und in den ärgsten Vierteln tragen roh
die kleinen Mädchen festgeschloßne Buxen.
Nichts Ehliches verrät ein Fensterspalt,
nirgends sind Badende nackt zu beluxen,
aus keinem Hof ein Chor von Zoten schallt,
kein Wollustschrei aus einer Dirnenschenke,
Kurzsichtigkeit behindert meinen Blick,
auf das Geheimnis nächtlich reger Bänke,
zu Orgienbars bringt mich kein Glücksgeschick.
Nie treff ich einen, der in dunklen Ecken
exzentrische Unzüchtigkeit verschleißt,
nie überrasche ich beim Selbstbeflecken
den Knaben, der der Schwester alles weist.
Enttäuscht von jeder Jagd nach Abenteuer
kehre ich heim, und meine kranke Gier
verbrennt sich in dem selbstgeschürten Feuer
der Phantasien wie ein Opfertier.


11. 07. 1920

Lied eines Verlassenen

Niemand mag bei mir bleiben,
Liebe gab mir sich zu Lehn
und ist durch trübe Scheiben
bloß noch als Schatten zu sehn.

Ob meine Hand auch kindlich
nach jedem Lichtstrahl jagt -
ich weiß, daß unüberwindlich
sich das Leben versagt.

Wie selbst das Bild entgleitet,
dem die eigene Brust
einen Abglanz bereitet,
leid ich Verlust um Verlust.

Welkt schon der Purpur des Mohnes
in fremder Schwestern Schoß;
die Rosen meines Balkones
stehn längst armselig bloß.

Der späte Trost eines Liedes
starb am Abendrain.
Mein letzter Stolz vermied es
bei Mitleid zu Gaste zu sein.

So ganz verlassen duldete
kein Blinder je -
Was Frühlingslust verschuldete,
büßt Winterschnee.

Schnee deckt die Gräber der Liebe
ewiglich:
Wer jetzt noch bei mir bliebe,
stürbe wie ich.


Sommer 1920

Am Ende der Welt

Ans Ende der Welt ist ein Kornfeld gestellt,
sein Kornblumblau umspült meinen Traum,
wenn der Abend mein Zelt sanft mit Wehmut umwellt,
steigt der Venus Geburt aus dem Ährenschaum.

Und sie hebt ihre Hand - und ich bin wie gebannt,
ein Fels in den Windspielerein,
jedem Kiesel am Strand ist ihr Bild eingebrannt,
ich allein bleibe lebloser Stein.

Komblumblau, Himmelsblau sind im Auge der Frau
zum ozeanischen All geeint. -
In der Traumblumenau liegt unscheinbar grau
meine Sehnsucht feindselig versteint.

Ans Ende der Welt ist ein Kornfeld gestellt,
Sturm peitscht durch die Gischt sein Boot,
wenn er nächtig mein Zelt an den Sternen zerschellt,
ist Venus tot.


18. 08. 1920

Engel der Zärtlichkeit

Ich vernehme kein Echo des Ewigen mehr,
zwischen mich und den Himmel ist Wüste geweht,
aus meinen Blicken kriecht ekler Begehr
und meine Lippen geifern Pamphlet.

Durch deine Stimme nur spricht noch
des Himmels Zärtlichkeit mit mir -
warum verschließe ich mich doch
so oft selbstmörderisch vor ihr?

Sie führt mich aus der Städte Haft
zum märchenweiten Ozean,
in des Gebirgs Mondnachbarschaft
aus schwüler Feste Fieberwahn.

Der Sternenaufgang deiner tief
enthüllten Augen hat erhellt
die Fremde mir. Lächelnd entschlief
in deinem Bild das Ährenfeld.

Entschlief ich nicht selbst durch Gebete versöhnt,
in die mich dein Herz hüllt zur ewigen Fahrt,
war doch paradiesisch mein Abschied verschönt
und durch dich hart am Abgrund vor Satan bewahrt.


28. 08. 1920

Verhängnis

Wenn du mich oft auch in die Irre führst,
auf Wege, die des Herzens Traum nicht kennt,
mich mit dem Zauberstab des Zorns berührst,
daß das Gespinst der Sehnsucht mir verbrennt;

wenn du mich mitten aus der Freude scheuchst,
kalt stehst am Wunder, das mich ganz entflammt
von falschem Gott dich süß erbeutet deuchst,
den schon dein Stolz, eh er gewann, verdammt;

wenn du in Festen dich verlieren kannst,
die unwert sind der Laune einer Nacht:
ich weiß nicht wie, doch daß du mich gewannst
durch mir Verhaßtes, gibt dir magisch Macht!


Anfang September 1920

Versunkne Paradiese

Blieb von jener Abendstunde
herbstliches Gebell der Hunde,
wo das Dorf zur Rüste ging
und aus welkgewordnem Glücke
eine schattenhafte Brücke
in des Winters Insel hing?

An verlassnen Baus Gerüste
träum' ich von der Ferienküste,
wenn ich stadtvereinsamt geh'
und von allem Glanz verlassen
vor den mitleidlosen Kassen
ohne Hoffnung bettelnd steh'.

In der Stirn die Peitschenschramme
schlepp' ich mich im Asphaltschlamme
wieder dann erfolglos heim. -
Singt das Meer sich noch türkisen
in verlornen Paradiesen
seinen leidentrückten Reim?

Aus dem Dunkel meiner Nöte
echot keine Maienflöte,
Herbst und Winter sind Gezücht
in den düstren Grabruinen,
Freuden, welche ewig schienen,
unwahrscheinliches Gerücht.


Mitte September 1920

Verlorner Sommer

Ich traure dem verlornen Sommer nach:
nur dieser eine war mir noch geschenkt,
dem ich so leichtsinnig die Treue brach,
daß künftig keiner meiner mehr gedenkt.

Was gab ich alle seine Wunder preis
und raffte mich nicht auf zu süßer Flucht?
Daß ich versagte, ist ihm nun Beweis:
ich bin unwürdig seiner Südenbucht.

Unwürdig immer in der Städte Fluch
bin ich gerechten Urteils eingesargt,
in Katakomben, wo sich Buch an Buch
anhäuft als Ware für den Sklavenmarkt.


24. 09. 1920

Stern, der durch mein Fenster trat. . .

Stern, der durch mein Fenster trat,
in den Tanz der Nachtgedanken,
seine weißen Veilchen tat
auf die Hand des Schaffenskranken,

seine Hilfe mir verhieß,
winkte noch im Morgenschimmer,
als er engelstill verließ
mein vom Wachen blindes Zimmer.

Stern, wann kehrst du zauberhaft
wieder, meinen Traum zu lieben?
Bist du auf der Wanderschaft
durch die Himmel fortgetrieben?

Fern im Wolkenozean
auf ein Inselgrab verschlagen,
nie zu retten, abgetan
wie der Staub auf meinen Tagen?

Tage mir und Nächte gehn
als Gespenst durch meinen Jammer -
kehrst du doch noch, wundersamer,
wird in meiner Sterbekammer
Grabeswind dein Licht verwehn . . .

Stern, der durch mein Fenster trat,
deine weißen Veilchen welken . ..


Ende 09. oder Anfang 10. 1920

Studentin der Medizin

Manchmal - Mama ist nicht zuhause -
mach' ich in meinem Leben 'ne Pause,
der Langeweile zu entfliehn,
durchstreif ich das unbekannte Berlin.
Bei jedem um die Ecke Biegen
hoff ich was Seltnes beim Schopfe zu kriegen;
vielleicht nähme mein lüsterner Trieb
schon mit dem kleinsten Reize vorlieb.
Dort im Schaukasten sind ein paar Karten,
die mit aparten Akten aufwarten.
Aber der ganze diverse Klimbim
ist in praxis nicht halb so schlimm.
Folgt mir ein Jüngling: fauler Zauber,
seh ich, daß seine Wäsche nicht sauber;
ging ich auf jenes Mädchen ein,
es würde eine Enttäuschung sein.
So kehr ich zurück. Unsre Köchin Ida
sagt: »Na Fräulein, das war wohl wieder
ne Pleite?« Ich lächle unbestimmt:
»Wie man's nimmt, mein Gott, wie man's nimmt!«
Meine Lektüre ist schwer zu besorgen,
ich liege oft wach bis in den Morgen.
Meine Freundin nennt das Ersatz:
sie hat einen Portierssohn zum Schatz.
Ich könnte mir nichts davon versprechen,
wagt niemand ein Sittlichkeitsverbrechen?
Wie schwer beschafft sich Kokain!
Ich werde Studentin der Medizin.


08. 11. 1920

Besiegt

Umsonst war meine Klage Lied geworden,
ich muß in die Gefangenschaft zurück,
die siegten, welche meine Träume morden
und es genießen wie ein Schauspielstück.

Ob solche Buße meinem Glück gebühre?
Den einen Sommer ließen mir sie frei,
daß ich so recht in Reue jetzt erführe,
was mir unwandelbar verloren sei.

Der eine Sommer, über dessen Glanze
der Schatten dieser Bitterkeit schon lag,
war mir vergällt in jedem Kornblumkranze,
weil schon gezählt war Stund um Stund sein Tag.

Wie konnte ich ihn frei als mein durchstreifen,
sah ich doch schon die Mauer, die ihn schließt,
und fühlte schon nach meinen Händen greifen
den, der sich selbst zur Lust mein Blut vergießt.

Was rührte den der Schrei aus Todesnöten,
er nahm mir noch der Klagen letzte Kraft,
die siegten, welche meine Lieder töten,
ich muß zurück in die Gefangenschaft.


17. 11. 1920

Die Hand verdorrt mir

Gleich mir ward keiner vom Geschick betrogen,
das mir soviel verhieß und gar nichts hielt,
als wäre es mir, Wunder wie, gewogen,
und alle Liebe war doch nur gespielt.

Warum ward ich im Traume überschwenglich
mit süßesten Verheißungen entzückt,
wenn doch mein Leben dann so unzugänglich
verrinnt und sich mit keinem Kranze schmückt?

Daß ich nur desto schmerzlicher erwachte
zum Tag, der meiner wieder höllisch harrt,
wie Tantalus an Sehnsüchten verschmachte,
mit denen mich ein böser Dämon narrt.

Ob mich zu martern seinen Schmerz betäubte,
wenn er dem eignen Quälgeist nicht entgeht,
ob er sich gegen das Bekenntnis sträubte,
daß er in meiner Schuld als Schöpfer steht?

Was frommt es mir, den Peiniger zu wissen
und gar mit seiner Not vertraut zu sein?
Nur desto wehrloser werd ich zerrissen.
Die Hände welken und mir graut, zu sein!


20. 11. 1920

Ich gehe einen schweren Weg

Ich warte so auf dich, daß du mich segnest,
eh ich den schweren Weg zu gehn beginne,
ich halte um ein weniges noch inne,
ob du mir doch am Tore nicht begegnest.

O könnte ich ein Wort von dir erlangen,
ein Liebeswort, das mich für alles feite,
daß dein Gebet den Zaubermantel breite
über mein letztes, lebensmüdes Bangen!

Du schweigst. Ich muß mich ungetröstet trollen,
auch du kamst nicht, mich schließlich doch zu retten,
so streck ich selbst die Hände hin den Ketten,
die mich fortan ins Dunkel bannen sollen.

Und wie ich meiner Schmach entgegen wanke,
fang ich schon an, die Feste zu vergessen,
da ich mich hatte eines Glücks vermessen,
dem ich jetzt nicht einmal in Träumen danke.

Schon wünsch ich, Gutes wäre nie geschehen,
dann würd ich meinen Sturz jetzt leichter dulden,
denn meine guten Stunden nur verschulden,
daß ich jetzt muß wund in die bösen gehen.

Von solchen Wunden kann ich nie genesen,
zuviel Vertrauen ist in mir zerschlagen,
kein Zeichen deiner Liebe darf ich tragen -
o wäre nie ein Hauch von mir gewesen!


Weihnachten 1920

Lied

Fühl' ich frühlinghaft Genesung,
die den Morgen hoffen mag,
oder einer Gruft Verwesung
geisternd durch den letzten Tag?

In dem abendlichen Tranke
schimmerte das Liebesgift;
doch der bangende Gedanke
überfliegt die Märchentrift.

Spielen unter seinen Flügen
Götter, die mir feindlich sind?
Müssen meine Lieder lügen,
wurden meine Träume blind?

Ob des letzten Traumbilds Schrecken
mich in Einsamkeit verbannt . . .
Wenn die Engel mich erwecken
liegt mein Glück in deiner Hand.


Neujahr 1921

Wenn ich dich nicht in meinem Leben wüßte . . .

Wenn ich dich nicht in meinem Leben wüßte,
wie sollte ich das Feindliche bestehn:
ich welkte heimatlos und sterben müßte
ich, ohne einen Blick von Gott zu sehn.

Wie ich mich jemals auch verwirren sollte,
du wartest treu auf meine Wiederkehr;
nichts endet glücklich ohne dich, und wollte
ich dich verleugnen, wär' ich selbst nicht mehr.

Ich triebe einsam durch die fernsten Straßen -
daß du in meinem Zimmer lächelnd bist,
errettet mich; im Lampenlaubdach saßen
wir wie geborgen vor dem Daseinszwist.

Ich finde heim zu dir nach allen Fahrten,
die mich entführten auf das fernste Meer,
wenn meine Träume nur dein Bild bewahrten,
wird jeder Tag ein Fest der Wiederkehr.

Wird jeder Abend auf der fremden Küste
nur dein Gestirn an Felsen tanzen sehn . . .
Wenn ich dich nicht in meinem Leben wüßte,
wie sollte ich das Feindliche bestehn?


 

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