Gedichte 1911

Gedichte

1911

Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.


Inhalt

Gesang der Besessenen

Die Gefangenen

Der grüne Husar

Notturno

Wir treten manchmal aus dem Kreis der Strengen

So harmlos lebt das Kaffernpack

Bekehrung

Der Rhythmus der Ekstasen

 

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Januar 1911

Gesang der Besessenen

Und haben den Tag wir in Buße verbracht,
im Gebet der düstren Kapellen,
so weihn wir dem Laster die lachende Nacht
in Sälen, überlichthellen.
Und lagen wir tags vor dir auf den Knien
und haben die Brust uns zerschlagen,
die Nacht in Satansmelodien
schreit auf von der Wollust Klagen.
Am Tag sind wir Mönche in härenem Kleid,
nachts sind wir verseuchte Vampyre,
der Tag ist voll Elend, die Nacht voll Geschmeid
wie lieb ich euch, Nächte der Tiere!
Da schütteln wir ab das beengende Joch,
da sind wir, wie wir uns geschaffen!
Du verdarbst uns ja nur und verdirbst uns noch,
denn wir sind ja nicht Menschen, sind Affen!
Sind Affen im Büßergewande auch,
die sich wie Menschen verstellen,
und der wahre Gott ist uns stets unser Bauch,
und die Betten sind unsre Kapellen!
Da zeigen wir nackt und entblößt unser Ich,
ein Ich voller Schwären und Sünden,
und fluchen dem Heiligen lästerlich,
des wir morgens voll Andacht verkünden.
Doch - der Morgen ist da! - Im Beter, im Tier,
wir sind j a immer in dir, in dir,
Herr, Herr, in dir!!


Januar 1911

Die Gefangenen

Sie kommen jeden Mittag so vorbei:
mit Schaufeln auf den schwer gebückten Nacken
und Beilen, Brettern, Stangen oder Hacken,
was sie wie eine letzte Waffe packen;
und alle waren einst, wie wir, ganz frei!
Nun aber hält sie fest ein Fürchten streng:
sie gehen scheu und bitter, stehn und schielen
nach unsern weiten Höfen und den Dielen,
wo lachend unbehindert Kinder spielen —
Ihr Leben aber ward so klein, so eng!
Daß immer müssen sie getrieben ziehn
wie Schlachtvieh, und daß welkenden Genossen
das ganze Dasein dunkel dort verschlossen,
und alle Pein und aller Bausch von Possen
dort ihnen wird, von wo sie nie mehr fliehn —
Und andre noch, die nie mehr solches sehn:
die Fenster und die Türen und den Wein
um liebe Lauben und auf weiten Wassern
den Sonnenschein und von verlebten Prassern
hochmütige Gebärden, was zu Hassern
sie macht, die mit verborgnem Ingrimm gehen
durch Scharen von Verhüllten und Aufpassern--
und die auch Hasser nicht mehr dürfen sein,
und denen Morgen nur ein Frührot ist
und ihres Sterbens grausiges Gerüste,
ein letzter tiefster Schrei in weher Wüste,
wo ein Verstörter, Dulder mehr als büßte —
Doch diese leben, und es lebt die List,
die von dem Draußen träumt und einem frei

wie jene Sein, die vor den Toren lauern,
sich stolz und müßig räkeln an den Mauern,
verächtlich blinzelnd in den Fenstern kauern
und immer frei sind . . . immer, immer frei!
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Sie kommen jeden Mittag so vorbei:
mit Schaufeln auf den schwer gebückten Nacken,
die sie wie eine letzte Waffe packen.


Ende Januar / Anfang Februar 1911

Der grüne Husar

Einst liebte ich dich,
du hast's nicht begriffen -
da hab ich auf deine
Liebe gepfiffen.
Du aber dachtest,
ich wäre ein Tor
und zogst den grünen
Husaren vor.
Der konnte reiten,
der grüne Husar,
und war noch viel grüner
als ich es war.
Der langweilte dich
mit Geständnissen nicht,
der machte ein Kind dir
und kein Gedicht.
Er köderte dich
mit erlogenem Schwüre -
er ist jetzt Beamter,
und du bist jetzt Hure.
Und ich bin noch immer
der Dichter, der Narr -
es lebe der scheene
grüne Husarr!


März 1911

Notturno

Schweinkerle, die mit Bügelfalten prunken,
Zuhälter nach dem Schnitt der neusten Mode,
Mastdirnen mit geschniegelten Halunken,
Schminkdamen mit dem Lächeln der Pagode.

Steithälse in verschrobenen Krawatten,
Kropfjuden mit des Kaftans Salbenfette,
Tribaden schmal und splitterdünn wie Schatten,
Viehhändler, auf dem Bauch die Protzenkette.

Sektfritzen mit der koddrigschnellen Schnauze,
Strichknaben, dicken Puder um die Fresse,
Bierpfosen, freund mit dem und jenem Kauze,
Klamottendichter, Nutten, Louis kesse.


Juli 1911

.Wir treten manchmal aus dem Kreis der Strengen,
der bleichen Selbstzerwühler und Asketen,
und gehen unter lärmende Proleten,
die lauter sind und sich ins Volle mengen.

Und wir verlassen jene, die da beten
zum Gott in ihrer Brust und sind im Engen,
und gehn zu denen, welche morden, sengen
und alles Stille unter sich zertreten.

Und bleiben dann bei ihnen kurze Zeit,
in Nächten voll Verachtung, Scham und Trauer,
und sind totwund und weh von ihren Taten

und so beschmutzt von ihrem Kleinstadtstreit -
und kehren wieder hinter unsre Mauer
voll Reue, allem fremd und wie verraten . . .


Juli 1911

So harmlos lebt das Kaffernpack . . .

Ein Herr Kohn freut sich an seiner Frau,
dicht daneben heult in einer Kammer
ein allein gelassener Wauwau,
und ein Refrendar hat Katzenjammer.

Ein gemeines Mensch trinkt Malzkaffee,
ein Mechaniker wäscht seine Füße,
einen Mummelgreis krümmt Magenweh,
ein Kommis schreibt Ansichtskartengrüße.

Kohn und Frau gehn jetzt aufs Land hinaus,
der Herr Refrendar säuft Sodawasser,
stiller wird das ganze Hinterhaus,
und der Mummelgreis wird immer blasser.

Das gemeine Mensch ist völlig nackt,
der Mechaniker küßt ihren Nabel,
der Kommis hockt auf dem Ort und kackt,
und der Köter winselt miserabel.


04. 07. bis 04. 08. 1911

Bekehrung

Als noch das Göttliche in dunklen Fernen
sich barg vor meinem Herzen, fühlt ich schon,
daß ich dereinst es würde lieben lernen.

Wenn nachts ich durch das stille Städtchen walle,
und alles tot ringsum, die Brunnen rauschen,
nur hier und dort atmet ein Tier im Stalle,
die Häuser hocken starr, als ob sie lauschen,
in sich gebückt, des Wassers weichem Falle,
an Giebeln sich noch festlich Fahnen bauschen
und meine Schritte klingen durch die Halle
vereinsamt wieder und wie selbstverloren,
und irgendwo hoch oben friert ein Licht,
und Wächter stehn vermummt in dunklen Toren:
da ist es plötzlich, daß mein Stolz zerbricht.

Ich knie betend vor den letzten Sternen,
und meine trüben Jahre weiß ich nicht.


Herbst 1911

Der Rhythmus der Ekstasen

Perlen prangen in meinem Blut,
seekühle Perlen . . . Weißt du, wie wohl das tut,
wenn jedes deiner Gefühle ruht unter
rauschenden Erlen!- - -
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Aber dann sind Ekstasen:
Potpourris von Mord und Werde,
sie grasen
auf grauem Zelttuch wie Zirkuspferde -
sie rasen
wie Hasen über die Erde -
eine höllische Herde!
Jede Gebärde wird unsicher - wird grell!
Flackert!
Dein ganzes Wesen starrt umgeackert!
Ein Blitz zuckt schnell
über alles, was du gelesen:
Du wirst Wind und Weh und Wut,
du wirst steil und stramm!
Und um die Perlen in deinem Blut
schwillt schwerer Schlamm!- - -
Die Ekstasen zerglühten alle meine kühlen Oasen.


 

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