Gedichte
1909
Alle Zeitangaben zu den Gedichten geben das Datum an, dem der Text zugeordnet werden konnte.
Bezug hierzu sind die Angaben aus der Sammlung der 1987 von Klaus Völker herausgegebenen Gedichte.
Inhalt
Du sollst dein Herz nicht an die Menschen hängen
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Anfang 1909
Klassisch
Doch meine Früchte sind so schwer von Reife
und wuchten so am Baume meines Lebens,
daß ich sie zitternd selber von mir streife -
ich wartete der Gärtnerin vergebens.
Mein schwanker Baum will sich im Winde wiegen
und freier in den Himmel jauchzen wieder;
wenn seine Früchte nun am Boden liegen,
lacht sein befreiter Leib euch tausend Lieder.
Was tut's, daß holde Ernte muß verderben
und ungenutzt das Hoffnungsreiche schwindet,
daß süße Früchte ungenossen sterben,
wenn sich ein bunter Kranz aus ihnen windet!
im Laufe 1909
Ein sehr ungezogenes Sonett
(denen Damen Reinkober, Drutschmann, Ruffert etc. ins Album)
Das ist das Tragische: ihr seid wie Puppen,
mit kalten Augen wie aus buntem Glase;
ihr kennt das nicht: ich juble, schluchze, rase.
Gezier und Schmollen nur sind eure Truppen.
(Wie Fischlein schillert ihr in tausend Schuppen.)
Das ist das Komische: ihr seid wie Puppen,
die immer lächeln mit geschminkten Wangen,
die in steif goldigen Gewändern prangen,
und stehn in abgezirkelt strengen Gruppen.
Das ist das Tragikomische: daß wir,
wir also törichte, verliebte Narren,
stets auf die Strahlen eures Herzens harren,
und immer beten: Göttin, neig dich mir!
Und schmücken euch mit Liedern, innig vielen,
statt: wie mit Puppen gleichgültig zu spielen.
1909
Hirtenlied
Ein Hirtenlied: auf moosbewachsner Mauer
sinnt einer träumend in den Abendschein,
dann klingt ein Lied voll lang verhaltner Trauer
und banger Lust ins Sonnenrot hinein . . .
Ein Hirtenlied: schlicht wie ein Hirtenleben,
einförmig fast- ein weites Kornblumfeld,
gleichwie im Abendwehn die Gräser beben,
wie eine heimlichreiche Märchenwelt...
Ein Hirtenlied: der Leidenschaft Begehren
ist unterm Sternenhimmel still gemacht -
ein Tag vorbei, mit seiner Last, der schweren,
nun singt in Schlaf die weiche Sommernacht. . .
1909
Anklage
Du jagtest mich in meine Kammer
allein mit meiner Leidenschaft:
der schöne Aufwand so verpafft
und heute schwach und Katzenjammer.
Ich war ja so in dich verschossen,
von Sinnen hast du mich gebracht,
zum Schluß hast du mich ausgelacht -
die beste Kraft umsonst vergossen!
Du süße, schelmische Soubrette,
du lächeltest mir lockend zu,
du brachtest mich um meine Ruh -
und mein weißseiden Unterbette . . .
1909
Kleinstadt
Ich bin durch das fromme Städtchen getobt,
ich hab mir ein Hurenlied gepfiffen,
ich hab einer unter die Röcke gegriffen,
die stotterte schämig: »Ich bin doch verlobt. . .!«
Da traf ich ein würdiges Ehepaar auch,
dem hab ich es unter die Nase gerieben:
ihm hab ich den Steifen eingetrieben,
die Alte bekam einen Tritt vor den Bauch.
Wie ein Feuerkalb plöckte die alte Vettel,
der Stadtrat hat sich ins Beinkleid gemacht. -
Wie hab ich am andern Morgen gelacht,
bei der Lektüre vom Käseblättel!
1909
Ich liebe. . .
Ich liebe Verbrechen, ich liebe Skandal,
ich liebe Huren und liebe Proleten,
ich liebe es, vor den Bauch zu treten,
so bin ich nu'mal!
Ich liebe alles, was andern fatal,
ich liebe Ehebrecher und Diebe,
ich liebe sogar die platonische Liebe -
ich bin anormal!
Ich hasse Sitte und Pflicht und Moral,
ich hasse Pastoren und Polizisten,
Fürsten, Hebammen und Juristen,
so bin ich nu'mal!
Anfang 09. 1909
Poesie
Die Liebe hatte ihn so gepackt,
die verdonnerte Liebe,
er träumte sich Menschenknäuel nackt
und Bisse und Hiebe.
Er träumte sich Negerweiber fett
mit Knaben und Tieren,
er träumte sich Paare im Korsett
und auf allen vieren.
Er träumte sich Mädchen beim ersten Versuch
mit Licht oder Rübe,
das heißt: er ward Dichter. Das ist der Fluch
der verdonnerten Liebe!
Anfang 09. 1909
.Du sollst dein Herz nicht an die Menschen hängen:
kauf dir ein Ding: ein Kleid, ein Glas, ein Buch.
Schenk deine Seele Versen und Gesängen -
von Menschen kommt dir Schande nur und Fluch!
Umgib mit Tieren dich, Hyänen, Schlangen,
noch immer menschlicher das tiefste Tier,
als Freunde, die nach deinem Gold verlangen,
und deines Weibes schlecht verhehlte Gier.
Türm eine Burg dir, fest, hoch in den Hängen,
laß keinen Sterblichen unter dein Dach -
du sollst dein Herz nicht an die Menschen hängen,
denn von den Menschen kommt dir Fluch und Schmach!
09. 12. 1909
Masoch
Ich werde dir eine Peitsche schenken,
mit der sollst du sie alle, alle schlagen,
und bei jedem Streich sollst du meiner gedenken.
Ich will eine Kette um dich schlingen,
die sollst du, nackt, um den Nabel tragen,
und zu deinem wilden Tanz wird sie klingen . . .
O, wie wirst du sie klirrend schlagen, schlagen!
So wird meine Seele dich immer suchen,
dich und dein blutendes Hochzeitsbette,
Madonna mir mit Peitsche und Kette,
dich ewig lieben und ewig verfluchen!
19. 12. 1909
Kavaliere
Die Marmorbecken mit den goldnen Fischen
verschenkten in Fontänen leichte Kühle
auf Schreine und verschnörkelte Gestühle,
und auf die Kavaliere an den Tischen.
Die saßen weit und nirgends war Gewühle.
Und Geigen summten in versteckten Nischen,
und nirgends hörtest du lebendig frischen
gesunden Laut und jauchzende Gefühle.
In eisiger Unnahbarkeit erstarrte
das vornehmkalte Wesen der Barone,
die steif in ihren Chorgestühlen hockten.
Nur das bisweilen einer »Bitte!« schnarrte,
und der »Pardon!« in gleich geziertem Tone,
indes die Geigen in den Nischen lockten . . .
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