Iwan Goll
Der Eiffelturm
gesammelte Dichtungen
Verlag Die Schmiede
Berlin
1924
Inhalt
I. Epische Dichtungen
Paris brennt. 1921 (siehe dort)
Noemi. 1915 (in "der Torso" bereits enthalten)
Die Chaplinade. 1920,
enthalten in: Yvan Goll, Dramen und dramatische Szenen. 1920-1948
II. Lyrische Dichtungen
Drahtlos vom Eifelturm (Neue Gedichte)
Drei Oden:
Für eine neue Mythologie. 1923
Erinnerungen aus der Unterwelt. 1917
[siehe: Die Unterwelt. Gedichte. 1919]
Der Schmerz der Schöpfung. 1916 [siehe: Der Torso. 1918]
Schöpfung des Menschen I – III
zurück zu den Gedichten von Yvan (Iwan) Goll
I E P I S C H E D I C H T U N G E N
Für Claire
Orpheus
Musikant des Herbstes
Trunken von Sternenmost
Hörst du die Drehung der Erde
Heute stärker knarren als sonst?
Die Achse der Welt ist rostig geworden
Abends und morgens steilen Lerchen zum Himmel
Suchen umsonst das Unendliche
Löwen langweilen sich
Bäche altern
Und die Vergißmeinnicht denken an Selbstmord
Müde ist die gute Natur
Dünn der Sauerstoff ewiger Wälder
Im Ozon der Gipfel erstickt man
Wolke regnet und sehnt sich nach Schlamm
Mensch muß immer zu Menschen zurück
Ewig bleibt uns Geschick
Eurydike:
Das Weib das unverstandene Leben
Jeder ist Orpheus
Orpheus: wer kennt ihn nicht:
1 m 78 groß
68 Kilo
Augen braun
Stirn schmal
Steifer Hut
Geburtsschein in der Rocktasche
Katholisch
Sentimental
Für die Demokratie
Und von Beruf ein Musikant
Vergessen hat er Griechenland
Eisvogels Morgengesang
Die dunkle Trauer der Zedern
Die Hochzeit der Blumen
Und soviel knabenhafter Bäche Freundschaft
Was sollen ihm heute Enzian und Gemse
Die Menschen sind elend
Gefangen in tiefer Unterwelt
In Städten von Mörtel
Von Blech und Papier
Sie muß er befreien
Die Armen an Mond an Wind und an Vögeln
Herr, bleibe stehn
Du da im gutgeschnittenen Cutaway
Halt: Herz vorweisen!
Mitteleuropäische Kultur
Mit Kaiserkrönungen
Baugesellschaften
Boxkämpfen
O Zeitgenosse, sehr geehrter Herr!
Orpheus ist zu dir gekommen
Von den griechischen Hügeln
In die Ackerstraße des Alltags
Ist der neue Dichter gestiegen
Du triffst ihn überall wo Lippen lechzen
Wo Herzen hungern
Musik wie einen warmen Umschlag
Auf allen Weltschmerz legt er dir
Orpheus singt den Menschen Frühling
Am Mittwoch zwischen halbeins und halbzwei
Als schüchterner Klavierlehrer
Befreit er ein Mädchen vom Geize der Mutter
Abends im Welt-Variété
Zwischen Yankeegirl und Schlangenmensch
Ist sein Couplet von der Menschenliebe die dritte Nummer
Um Mitternacht ein Clown
Im sonnengoldenen Zirkus
Weckt er mit großer Pauke die Schläfer
Sonntags vor Kriegervereinen
Im eichengeschmückten Tanzsaal
Der Dirigent der Freiheitslieder
Magerer Organist
In stillen Sakristeien
Übt er die Orgel süß für Jesukinder
In allen Abonnementkonzerten
Mit Gustav Mahler
Grausam über die Herzen fährt er
Im Vorstadtkino am Qualenklavier
Läßt er den Pilgerchor
Den Mord an der Jungfrau beklagen -
Grammophone
Pianolas
Dampforgeln
Verbreiten Orpheus' Musik
Auf dem Eiffelturm
Am 11. September
Gibt er ein drahtlos Konzert
Orpheus wird zum Genie:
Er reist von Land zu Land
Immer im Schlafwagen
Seine Unterschrift faksimiliert
Für Poesiealbums
Kostet zwanzig Mark
Und von Athen aus fährt er nach Berlin
Durch die deutsche Morgenröte
Da wartet am Schlesischen Bahnhof
Eurydike! Eurydike!
Da steht die Sehnsucht-Geliebte
Mit ihrem alten Regenschirm
Und zerknitterten Handschuhn
Tüll auf dem Winterhut
Und zuviel Schminke auf dem Mund
Wie damals
Musiklos
Seelenarm
Eurydike: die unerlöste Menschheit!
Und Orpheus sieht sich um
Er sieht sich um - und will sie schon umarmen
Zum letzten Mal aus ihrem Orkus holen:
Er streckt die Hand
Er hebt die Stimme
Umsonst! Die Menge hört ihn schon nicht mehr
Sie drängt zur Unterwelt zum Alltag und zum Leid zurück!
Orpheus allein im Wartesaal
Schießt sich das Herz entzwei!
an Elisabeth Bergner
Wir wollen wieder in uns zurückfallen
Die Blumen falten die Hände wenn der Mittags-König
vorbei ist
Der Klee geht in sich und die Anemone
So wollen wir unser Herz verschütten
Einsam werden
Geduldig
Ich habe den ganzen Sommer in mir
Die stolze Einsamkeit der Pappeln
Aus dem Aufruhr der Äcker blitzt die spitze Lerche
Wasser mit immer offenen Augen
Versteht den Einsamen und schenkt ihm den Spiegelfreund
Wasser ist immer tief an Gefühl
Voll schweigender Fische die königlich und stumm
Und soviel weiser als wir
Im Rauschen der Gestirne trauern!
Vielleicht ist selbst der Mord ein gütig Schicksal
Denn die Skorpionin frißt ihren Skorpion aus Liebe
Und Lilien haben Jungfrauen getötet
Ich liebe auch die Nessel die Bettlerin der Straße
Mit den gesenkten grünen Wimpern
Viel Leid geschieht in der Sommerlandschaft
Wir haben nicht nach Leid oder Güte zu fragen
Wir haben nur einsam zu sein
Und einfach
Ich sah einen sterbenden Baum
Seine Finger zackten und zitterten über meinem Schlaf:
Durchs Geäst blinkte Algol das brünstige Paar aus der
Schlucht der Nacht
Saturn schleuderte seinen Diskus durch die Ebene
Aber der Baum schrie in die Ewigkeit hinein
Und rang verzweifelt die Arme
Von Ameisen Moosen und Engeln zerfressen
Ach wär ich Sommer Strom und Fisch
Wär ich ein Spiegel ein Waser eine Photographieplatte
Wär ich Verwandlung ins All!
Aber mein Herz ist aus Glas wie eine billige Flasche
Mein Herz ist abends und morgens der gleichgedeckte
Tisch
Wohnzimmer Zeitung Klassiker auf dem Regal
Ich bin ein Mensch heiße Felix und schreie im Warenhaus
»Vera-Shoe ist der beste!«
Die kleinen Füße der Damen
Geben sich meiner Sehnsucht preis
(Nur wer die Sehnsucht kennt weiß was ich leide)
Menschen lächeln aneinander vorbei
Mensch lebt an Mensch vorbei
Nur »Vera-Shoe ist der beste!«
Ich sah gestern ein Schäfchen
Es schnupperte dumm an herzigem Geisblatt
Du kennst die Angst der Einsamen nicht und ihre Tränen
Gottes Gewässer
Du brätst ihre Schenkel und schmatzest
Ach warum leben die Schäfchen
Und warum sterben sie wieder?
Ich zerschlage mich ich grabe mein Gesicht auf und den
Himmel
Nichts kommt heraus als im Gesicht ein Pickel und ein
Stern im Orion
So bleibt nichts anderes übrig als zu schnarchen
Oder zu rufen: »Vera-Shoe ist der beste!«
Das Telephon den Donner und die Zikade zu überschreien
Bis endlich die Frühlingssuppe serviert wird
Denn um halb drei muß ich im Warenhaus sein
Untun ist heilig!
Heilig sind die Steine
Sie steigen nicht und stürzen nicht
Sie untun -
Geduld Geduld ist Ewigkeit
Wer je ins Schweigen der Steine dringt
Dem auferstehen plötzlich Götter
Tief aus dem Ur steigt die Gestaltung
Geschmeidiger erscheint der Kiesel
Als Phidias und der Geliebten Hals
Und liebe mich dennoch: Bruder
Der du höflich bist mit Damen in der Tram
Der du Fahnen grüßest wenn die Trommel schlägt
Dein Kragen ist frisch und haftet für die Reinheit deiner Seele
Der du Germinal liest und Douglas liebst
Der du deinen Platz im Konzert reserviert hast
Liebe mich dennoch
Ich bin ein Mensch
Ich könnte die Schwalbe im Raum sein
Das zitternde Blatt der Ulme
Oder das ärmste Unkraut am Hang
Bewußter kann man nicht sein
In Sonne und Nacht
Im Ja und im Nein
Vor dem Kleinsten schmelzen wir hin
Wenn eine Heldin vom Stadttheater in Memel
Die Mieter des möblierten Hauses zum Tee lädt
Sie singt sich ihre Seele aus der Brust
Sie singt sich die Erinnerung tot
Du siehst die geschwollenen Adern am Halse die
schmutzigen Nägel du möchtest schluchzen
Aber Goethe und Orangen sind in ihrer Sehnsucht drin
Vom pendelnden Kreuz
Auf ihrem Mieder blutet Christus aufs Neue
Manchmal steht man am Mittelmeer
Der Feigenbaum hält im Gezweig ein goldenes Panorama
Aus den Früchten dunkeln Sonnenuntergänge
Die grüne Schleppe des Ozeans trägt Brüsseler Spitzen
Morgens kommen die Wellen wie Mägde ans Ufer
Waschen der weißen Nymphe Tunis die marmornen Füße
Ha, Vera-Shoe ist der beste! speit die Reklame
«Sie sind ein Dichter, kein Kommis!» schreit mein Chef
Die Hauptkasse zahlt mir den Restmonat aus
Ich fahre mit Isabel nach Cythera:
»Isabel, ich liebe dich Feurige Wolke
Zieht dein Haar über durstiges Land
Meine Seele ist ein Vogel auf deinem Herzen
Isabel ich liebe dich
Komm! der Busch hat grüne Flöten und Stimmen
Auf der dunkelsten Bank im Park
Wollen wir Amor und Psyche spielen
Aus Amerika tönen die Variétés
In der Hudsonbai flammen die glücklichen Schiffe
Rosse und Seehunde schweifen zum Himmel
Isabel ich liebe dich
Mein Herz ist heute so weit wie die Welt«
Mein erster Gesang! Neue Poetik!
In der Meridiane kupfernem Käfig
Machen wir große Reisen durchs Schicksal
Gesang ist Ballast zu freierem Flug
Gesang ist abgeworfenes Leid
Ist Liebe die in sich versank
»Isabel
Draußen die Welt klingt von den Worten Gottes
Auf den Plejaden tönen ewige Mandolinen
Außer dir
Und außer mir
Ist keine Welt möglich
Jede Birke in der Felsschlucht
Und jede Trambahn trauernd weiß es
Isabel es gibt noch tausend Glücke
Jedes Streichholz kann uns Bengalien bringen
Jeder Stern uns zu Königen krönen«
Aber im Nebenzimmer sang der Börsenmakler
Dasselbe Lied seiner blonden Emmi
Der Pikkolo sang es der schwangeren Köchin
Am nächsten Morgen strichen wir alle Semmeln mit Butter
und Honig in Liebe!
Sehnsucht der unaufhörlichen Welle
Das Meer ist eine Karawane nach dem Unendlichen
Ganze Völker des Wassers wandern
Isabel, mein Blut ist dieses Meer
Ich hörte den Regenfall in der sternarmen Nacht
Jeder Tropfen beklopfte mein Herz
Wieviel Tropfen starben in Narzissenkelchen und
Gosseneimern
Wieviel Leben wieviel Sehnsucht der ganzen Welt zerrann
an mir!
Endlich wird man Revolutionär
Misanthrop aus Menschenliebe
Das Wort Barrikade ist ultramarinblau
Die Bettler auf den Fortifikationen
Tragen einen Heiligenschein um den Schlapphut
Dann blutet man leise
Aus der Stirn
Der Eiffelturm speit brennende Opfersprüche nach Nauen
Am Niagara schöpft man die Pferdekräfte
Zur Verurteilung der Verbrecher: Sing-Sing
Später erörtert man folgendes:
Bin ich ein guter Mensch? Bin ich kein guter Mensch?
Bin ich ein guter Mensch? Bin ich kein guter Mensch?
Dies tägliche Gebet zu Gott! Aber Vera-Shoe bleibt immer
der beste!
Schließlich muß man den Wechsel des Spediteurs eintreiben
Ich werfe zehn Centimes unter die Menge
Der Papst schickt mir ein Radiogramm
Die Illustrierten Blätter lassen mich in effigie lächeln
Und alle Friseure zeigen mich den Kunden
O Herr der Menschen, ich bin unfähig
Vera-Shoes an feine Damen zu verkaufen
Unfähig Isabel Semmeln mit Honig zu streichen
Unfähig zum Revolutionär
Ich bin unbegabt für Europa
Auf irgendwelcher Hemisphäre schluchzt eine Frau:
»Er liebt mich nicht! Er liebt mich nicht!«
Mein spöttisches Profil liegt in ihrem Herzen auf rotem Samt
Eventuell wird mich die Stadt Ottawa zum Bürgermeister
wählen
Aber ich kann keine Antrittsrede halten
Und Felix ist ein schlechter Name für diese Zeit
Ich fühle Lerchen gurgeln in meiner Kehle
Ein Baum klagt in meinem Gerippe
Überall scheint der Mond
Schopenhauer ist in jeder Buchhandlung käuflich
Das Wohnzimmer meiner Mutter ist mit der blauen Blume
tapeziert
Doch was für Zigaretten soll ich rauchen?
Frag nicht mehr ob gut ob nichtgut
Der Baum frißt die Luft Käfer den Baum Vogel den Käfer
Schlange den Vogel Erde die Schlange Luft die Erde
Wir müssen uns nur zusammenfalten
Weise ist der schweigende Stein
Gut der rote dreiblättrige Klee
Einsam und einfach
Einsam
Und
Geduldig
I
Wo einst der Karaibe träumend sein Floß
Über die Seen trieb wo bunte Papageien
In verwachsenem Urwald hingen und schreiend
Die Affen sich bissen; wo der Spanier groß
Und stolz bereits vom leichten Sieg
Die Erde küßte und sein eigen nannte:
Und jeden andern Gott der aus den Feuern stieg
Mit seinem Fuß zertrat weil er den Christ schon kannte
Da schwenkten kleine schwarze Eisenbahnen
Des Rauches weiße Meldungsfahnen
Und fraßen Wunden in die Kreidefelsen
Die starren Urwaldpalmen wurden gefällt
Es flügelten über die tote Welt
Die Kranenstorche mit ihren neugierigen Hälsen
II
Ein Steinwust lag mit grünem Moor geschminkt
Von eklem Traum die Sonne weiß umblinkt
Moskitogewimmel
Sirrte über Graben und Himmel
Die Erde bäumte sich im Frevel
Aus Schluchten schwärte Rauch und Schwefel
Gebirge von Tunnels durchstochen
Fielen wie Gips und Brunnen begannen zu kochen
Arbeiterstädte wie Moos im Tal angeschossen
Städte aus Ziegeln aus Stroh und Gezelt
Um ein Badehaus ein Spital einen Tempel gestellt
Waren plötzlich von Lehm Übergossen
Und alle schlürften Eis und brieten in gleichen Pfannen
Die Fische des Gatun und tanzten sonntags zusammen
Aber die Totenstädte inmitten
Schieden sie bald nach Völker- und Göttersitten.
III
Endlich von Zeit genagt von Blut und Gold und Qual
Geätzt erstand durch See und Fels und Wüste quer
Der Kanal!
Bogenlampen leiteten ihn nachts von Meer zu Meer
Tags war von Metall und Pumpen und Stöhnen ein Schall
Wie eine Wolke von Dynamit sprengte den Himmel der Hall
Je an Ein- und Ausgang wuchsen eiserne Schleusen
Jeder Zoll von kleinlichem Hammer beschlagen
Ungeheure Flügel von kleinen Stahlgehäusen
Wie von Promethiden in die Tiefe getragen
Und wenn diese Tore sich öffnen werden
Wenn zwei feindliche Ozeane sich küssen -
O dann müssen
Alle Völker weinen auf Erden
Alles was dein ist Erde wird sich nun Bruder nennen
Alle Wasser die bittern und süßen
Die kalten Ströme die Quellen die brennen
Werden zusammenfließen
Dort wird der Erde Herzschlag dauernd wohnen
Wo des Golfstroms Natter sonnenschuppig sich ringelt
Und mit heißem Blutlauf Kaps und Inseln aller Zonen
Umzingelt
Feuerholz Brasiliens Tannenstamm aus Nord
Und Europas glatter gleißender Stahl:
Schiffe finden sich von jedem Dock und Fjord
Hier am Kanal
Rauch der Kohle aus fernen Ländern und Schichten
Tausendjähriger Wald schwer zerdrückter Quarz
Wächst als neuer Baum zu den Wolken den lichten
Aus der Erde schwarz
Masten schimmern wie ein Bündel Speere
Über der friedlichen Völkerzahl
Und beim Lied der Motore und Meere
Zittert der Kanal
Jeder singt die Weise seines Lands
O Geflitter von Sprachen und Lauten!
Und die fremden Matrosen und Argonauten
Verstehen sich ganz
Jeder im Hafen am Dock in den Bars
Redet und lächelt sich an
Ob im Zopf im Hut in Mütze ob blond oder schwarzen Haars
Mann ist Mann
Jeder wird zum Bruder den man erkennt
Augen aus Mahagoni Augen aus Meer
Ein Stern in ruhigen Nächten brennt
Über dem friedlichen Heer
Und sie trinken Brüderschaft
Aus der Weltliebe unendlich tiefer Schale
Heute ankert alle Erdenkraft
Hier im Kanale.
II L Y R I S C H E D I C H T U N G E N
DRAHTLOS VOM EIFELTURM
(Neue Gedichte)
Ode an Paris. 1918
Paris, du glückliche Modistin im Mittag der Zeiten
Dein blauweißroter Sommerhut bewimpelt die Welt -
Wie brennt der Juli aller Bastillen dir!
Indes von Lorbeerhainen beschattet
Schweigt das versunkene Aisne-Tal
Wie züngeln die Flammen der Garde Républicaine
Die Marseillaisen steigen in den Himmel
In Landauern die tadellosen Fräcke
Auf schweifigem Pferd der Marschälle Macht:
O Dreigestirn der goldenen Medaillen!
Ich aber bin dein unsichtbarer Gast
Aus tausendjährigen Räumen alten Leidens:
Es fährt die rote Hochzeit der Völker zum Bürgerbankett
Hoch über mich Eisamen hin
Ich seh das Leuchten deiner Triumphe nicht
Nicht Schwalben um den Eiffelturm noch den Aufruhr der
Fahnen
Nicht die Puppen Japans noch die Negertamboure
Wie sie durch alle Kinos grinsen werden -
Ich halte Parade der Toten
Hut ab! Aus Unterwelten steigt der Blutsoldat
Die Kniee in die Gräber gerammt
Den halben Kopf als Meteor gespritzt über Verdun -
(Und die andere Hälfte an pfirsichem Mädchenbusen)
Revolverhände zerknüllen die Sterne
Hut ab vor ausgeweinten Witwen an den Fenstern -
Der Präsident hält den Zylinder hin
Und sammelt goldne Hurras für die Republik
Doch hinter seinen grellen Generalen
Schwebt unerkannt und ohne Marschmusik
Gigantenhaft auf ungelenken Gäulen
Ein andres graues Heer:
Debout les morts!
Dein Herz von Asphalt
Proleten werfen es in die Scheiben des Jahrhunderts
Und dein elektrisches Auge brennt über den hängenden
Gärten
Gelbe Untergrundbahn
Flieht zu lieblichen Quellen des Abends
Berlin du Bar des Planeten
Wie ich Urzeit spüre!
Unterwelten entsteigt der Autobus
Hirne braun gebacken bei Kempinsky
Fett befingerter Prophet
Über preußischblauen Postbeamten
Bruder: ach es schwankt die Himmelsachse
Klappt dir den Zylinder zu
Doch im Kino krönt man Könige noch
Kant und Einstein lächeln populär
Die Kultur! Kultur! Kultur!
Zu den Negern drahtet eure Lüge
Kleine Mädchen haben ein Papierherz
Schattig Paradies der Promenadenbänke
Deine Frühlinge aus Tüll und Lindenblüten
Liebt der Bordellherr
Marmorn muß das Kolossale strotzen!
Türme gibt es nicht noch Götter:
Aber das Quadrat der Bank, Zuchthaus von Moabit:
Und ägyptisch
Wirkt die Statue des Schutzmanns
Bei den Stollwerckautomaten
Da entquillt dem Schnaps-Sumpf mein Prolet!
Freiheit! kaut das müde Maul des Hungers
Freiheit! zirpt die ferne Artillerie
Freiheit! in Kolonnen des Sturmschritts
Hymnen schreibt der rote Redakteur!
Und die Orgeln brausen: O Susanne!
Heilige Rosen blühen im Landwehrkanal
Letzte Rose von Deutschland!
Alles Gold zerrann zu Freibier
Lockernd den Asphalt des Mob -
O Berlin, du Nessel am Kreuzweg des Ostens
Dorre an deinem Staube bröckle Vergessenheit
Aus verschlafenen Wolken
Steigt Aurora wie im Lift herab:
Streut auf die Stadt ein rosa Vitriol
Den Tag der uns verbrennt und schmerzt
Hat London Brunnen sich das Herz zu waschen?
Bäume in die man seine Seele hängt?
Die Juweliere legen Tränenkolliers in ihr Schaufenster
Und die Friseure vergaßen die Märchen
Täglich durch die gleichen Straßen
Werden die gleichen Toten getragen
Müde des Regenwetters
Müde der allzu teuren Liebe
Das Leben fließt unter den Brücken weg
Wir darüber verstehn es zu spät
Schleppen Qualen vom Ufer zum andern
Von einem zum andern -
O Vater gib uns unser täglich Leid
Damit wir nicht an Langeweile sterben!
Aber Hoffnung wiegt das mütterliche Meer
Dessen Euter über den Docks hängt
Im Vanillefrühling
Im schillernden Öl-Herbstbraun
Indiens Elefantensommer
Nordpol-Import
Der König ist beim Photographen beschäftigt
Und Whitechapel regiert
Die fetten Jüdinnen tanzen
Sterne zwischen den Brüsten
Ein neuer Jesus in Sporthose küßt sie
Und über East-Ham sitzt ein Bronze-Buddha
Den Sonnenuntergang legen Brandstifter an
Eine goldene Feuerwehr löscht ihn mit Whisky
Indes eine junge lederne Königin
Mit abgefaultem Hals
Klein und süß in ihrem Sarkophag
Phosphoresziert in der ägyptischen Brautnacht
Des British Museums
Doch alles alles wäre umsonst
Ohne dich: antike Aurora
Märzwind auf unbescholtenen Äckern
Wo großäugige Hasen sitzen
Hügel von Zeisigen trunken
Der Frühling tennisweiß
Weht über Trafalgar Square
Und schenkt den hunderttausend Tippfräulein
Shelleys Genie
Eine neue Nationalflagge weht: blondblaublond
Die Kupferkurse steigen im Thermometer
An Albert Ehrenstein,
den letzten Dichter von Mitropa
Mississippi
Gott der Götter
Dunkler amerikanischer Zeus
Kupferne Geigen
Himmlische Telephone
Künden dein dynamisches Stadium
Kabel von Peking
Kabel von Erebos
Bringen uralte Sehnsucht und Zweifel
Uraltes Schicksal
Liebe und Abschied
Drehen dein Herz zu 3000 Volt an
Rostig wurde die Achse der Erde
Aber elektrische
Pferde drehen sie schneller und schneller
Ferne Sphinx
Öffnet steinerne Augen
Liebe wirkt radioaktiv
Steil vom Ätna
Bis zur Milchstraße
Schnellt ein Regenbogenbroadway
Goldene Luftschiffe
Exportieren schon
Christentum und Kapital zu den Sternen -
Nur der alte traurige Dichter
Steht wie sonst am Eiffelturme
Und verbrennt seine Vögel und Träume
Stürzt sich
Nutzlos wie diese
Hinab
Die Sterne rosten
Langsam oxydiert sie der Frost
Es regnet dort und überall
Der Wind wirft mit zerbrochenen Vögeln um sich
Und schreit -
Erkaltet wie ein Krater auf dem Mond
Ist mein Herz
Ich friere langsam in das All hinüber
à Jean Cocteau
Die letzten Wolken starben am Kap Hoorn
Der rote Malaga der Sonne perlt
Und trocknet an der Lippe mir
Wasser schmolz in toten Wind
Quecksilber hebt die schwarz und weißen Hügel
Und schlummert ein im Arm von Réaumur
Wisch weg von meiner Stirn den Intellekt
Nichts sein als Kreatur
Und ohne Zweifel schlafen schlafen sterben
à Juliette et Albert Gleizes
Du bist die Sphinx, unwirkliche Erscheinung:
Am schwarzen Golde deiner fixen Augen
Entzünden sich die stummen Nächte
Im Dunkel weitet sich der Blick
Das Element verrät sich selbst
Mit blauem U-Strahl
Durchleuchtest du das Herz der Welt
Mit Dynamit aufbröckelst du die Nacht -
Und was enthüllst du mir?
Das Nichts das hinter jeder Wand
Selbst hinter unsren Sternen gähnt
à Robert Delaunay
Proserpina steigt aus der Untergrund
Dame in Schwarz, drückt Vögel an die Brust
Und duftet nach soviel Jasmin und Abend
Geheimnisse! Mit welchen blonden Göttern
Hat sie schon Wälder ihres Grüns beraubt
Und Wolken all die Sehnsucht abgelauscht!
Durch ihre Trauer glüht die Kohle durch:
Das rote Herz
Wem wirft sie's zu? Die Männer alle lauern
Versessne Meute auf den Happen Fleisch
Rheinkohle statt Gold
Die Fische und die nackten Nymphen
Sterben im romantischen Wasser aus
Über die Brücke fahren nur Trauerzüge
In Särgen wird das letzte Gold geschmuggelt
Der Osten exportiert seine Frühsonne
Aurora ist kein Frauenname mehr
Doch paßt er gut für eine Aktiengesellschaft
Wir kamen von Frankreich
Über den Bahnhof hinaus fuhr unser Zug in den Kölner
Dom
Die Lokomotive hielt vor dem Allerheiligsten
Und kniete sanft
Zehn Tote kamen direkt ins Paradies
Petrus »English spoken« auf dem Ärmel, bekam ein gutes
Trinkgeld
Die glasgemalten Engel telephonierten
Und flogen hinüber zur Cox-Bank
Rosa Dollarschecks einzulösen
Gegen Mittag wurde ein neuer Zug gen Warschau gebildet
Ruhlos erwarte ich in Bahnhöfen den Frühling
Die Lokomotive der Sehnsucht hält an keiner Station mehr
Fünftausend Brieftauben mit falscher Adresse
Hab ich der unbekannten Geliebten nachgeschickt
Nachtigallen ließ ich in Klavieren nachhause transportieren
Doch sie erstickten in einer Sommernacht
Ich kaufte Pampas mit gescheckten Tigern
Und alle waren brüderlich gezähmt
Den Mond aus Aluminium gewann ich auf einer Messe
Schlechte Fabrikware: er schmolz vor Tagesanbruch
In welches Herz, in welches Herz
Die neuen Veilchen stecken?
Trostlos irre ich so durch Europa
Eine tote Schwalbe in meiner Rocktasche