Max Herrmann-Neiße "Porträte des Provinztheaters" 1913

 Porträte des Provinztheaters

1913

 

Alfred Kerr
in innigster Verehrung und Dankbarkeit zugeeignet


 

 

Verlag A. R. Meyer
Berlin-Wilmersdorf
1913


Inhalt

Der Kritiker

Die Naive

Der Direktor

Die Choristinnen

Der jugendliche Held

Der Komiker

Die komische Alte

Die Elevin

Der Regisseur

Die Frau des Regisseurs

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 Januar 1913, abgeschlossen am 27. 01. 1919

 Der Kritiker


Er hockt in seiner Loge ganz vergrämt
Und reglos, weil er seiner selbst sich schämt,
Daß ihm in seines Herzens tiefster Tiefe
Die Liebe mächtig wird für die Naive.

Dann ärgern ihn mit einem Mal der schiefe,
Blasierte Blick des Nachbarn und zwei Briefe,
Die er heut anonym empfing. Es lähmt
Ihn plötzlich Angst, er zittert unbezähmt.

Dann fällt der Vorhang. Licht flammt auf im Saale.
Er thront jetzt wieder eisig und unnahbar
Und lächelt spöttisch Unbefangenheit.

Und sonnt im Samt der Brüstung seine schmale,
Verwöhnte Hand und denkt, daß etwas da war,
Was schrecklich schien, und fühlt sich kampfbereit.


Die Naive


Der Herr Direktor tätschelt sie jovial,
faßt ihr ans Kinn und schmunzelt: »Na, mein Kleines ...
Im Grunde wär sie ihm ja sehr egal,
Allein er weiß, sie ist von Haus »was feines«.

Die Hüftengegend blieb ihr allzu schmal,
Doch reizt die Linie ihres zarten Beines,
Ihr Augenaufschlag winkt sentimental,
Als kenne sie nichts Böses und Gemeines.

Im Lesezirkel ist sie abonniert:
Sie schwärmt ganz backfischlich für Heinz Tovote,
Bartsch, Herzog, Clara Viebig, Sudermann.

Von allen Leutnants wird sie stark poussiert.
Ein Jüngling, der statiert, ist Liebesbote
Und schwimmt verstört in ihrer Blicke Bann.


Der Direktor


Nachmittags spielt er Billard im Café
Mit Doktor, Apotheker und Bankier,
Gibt ihnen drollig-freundschaftliche Namen
Und tischt Pikantes auf von seinen Damen.

Nachts stiehlt er sich ins Weinhaus-Separé
Mit der und jener kleinen Chargenfee.
Zu Haus sitzt seine Frau und schreibt Reklamen,
Teilt Rollen aus und liest die neusten Dramen.

Oft ist er plötzlich bei der Probe da,
Leis angetrunken noch, und zankt und wettert.
An Festen geht er in die Synagoge.

Zu Mittag spielt er zärtlichen Papa,
Von seinem Sohne himmelhoch vergöttert.
Der ist ein Muster und wird Theologe.


 

Die Choristinnen


Lockvögel sind es mehr. Oft sind sie frei
Auf Wochen lang. Sie werden kaum zum Bau
Gerechnet. Manche ist die Braut, die Frau
Von dem und jenem Mimen nebenbei.

Sie streifen in der Nähe der Kaserne
Und wissen außer ihren Chargen nichts
Von ihrer Kunst. Verschminkten Angesichts
Tun sie sich auf als seltne Bühnensterne.

Sie plärren monoton und stehn wie Holz
Und schmeißen Kitzel-Blicke nach den Rängen,
Und alle sind verliebt und schrecklich wild,

Voll Schwarmgier nach dem jungen Held. Sie drängen
Sich stets um ihn und schmeicheln seinem Stolz
Und betteln um sein Autogramm und Bild.


 

Der jugendliche Held


Er ist der Fraun und Mädchen süßer Schwarm:
Sie senden ihm Konfekt und Schokoladen
Und streichen hartnäckig auf Promenaden
Um ihn herum und blicken Sehnsuchtsharm.

Sie bleiben tausendmal vor jenem Laden,
Drin seine Bilder sind, und werden warm,
Wenn sie begeistert preisen seinen Arm,
Und seine Nase, Augen, Stirn und Waden.

Sie stehlen heimlich die Visitenkarte
Von seiner Tür und streicheln im Gedicht
»Den gertenschlanken, frühlingsfrischen Leib«.

Er gibt geheim den Huldinnen recht harte,
Erboste Namen und -»Tu aus das Licht! « -
Lebt mit dem Komiker wie Mann und Weib.


 

Der Komiker


Er wirft die Witze winkend ins Parkett,
Verständnisinnig schmunzelnd, frech und fett.
Bei allen bessern Bürgern ist er sehr
Beliebt und »steht mit ihnen im Verkehr«.

Sie finden geistreich ihn und riesig nett,
Oft kommt von ihren Frauen ein Bukett.
Man ladet ihn zu Tisch. Der Feuerwehr
Ist er beim Stiftungsfeste Arrangeur.

Spät nachts, wenn ihre Gattinnen zu Bett,
Muß er den Spießern derbe Zoten geben,
Dann trinken sie bewundernd auf sein Wohl.

Am Morgen wankt er heim, da hockt adrett
Die alte Damen spielt, und stöhnt: »Mein Leben!«
Und küßt den Trunkenen. Der schnarcht schon hohl.


 

Die komische Alte


Sie schminkt sich niemals alt. Auch wenns die Rolle
Verlangt. Sie ist erst sechsundvierzig Jahr.
Sie frischt die Augen auf und färbt das Haar
Und gibt dem Spott sich preis als Liebestolle.

Sie trägt sich so, daß jedem sich der volle,
Klug aufgesteifte Busen bietet dar.
In jeder Jüngren wittert sie Gefahr
Und ist ihr gram mit neidischwehem Grolle.

Nur die Elevin ward ihr Hort und Heil
Und wird bemuttert als ihr liebes Kind:
Der hört sie Rollen ab und putzt die Schuh.

Dafür hat sie an Abenteuern teil;
Da fällt, wenn die Galane trunken sind,
Auch ihr ein bißchen Zärtlichkeit noch zu.


 

Die Elevin


Sie blickt noch ganz erstaunt in diese Welt,
Wo alles anders ist und wunderbar.
Zum ersten Mal ist Weihnacht dieses Jahr
Sie fern von Haus und ganz auf sich gestellt.

Sie findet alle diese Menschen rar
Vom Logendiener bis zum ersten Held.
Sie wünscht sich Rollen, drin man sehr gefällt,
Und jedes Schmeichelwort nimmt sie als wahr.

Sie träumt sich Zukunftswunder. Gibt sich ganz.
Schwört auf die Reden ihres Regisseurs
Und fühlt in sich unendlich Zärtlichkeit.

So sonnt sie sich verklärt im Bühnenglanz,
Glaubt an die Phrasen jeglichen Flaneurs,
Und wie im Rausch zerflattert ihr die Zeit.


 

Der Regisseur


Heimtückisch tuscheln sie in der Garderobe
(Daß er es hören muß): »Im Publikum
Geht man mit der Regie nicht glimpflich um,
Und Worte fallen oft, sehr böse, grobe. «

Und immer trifft der Haß ihn, starr und stumm
Prallt er aus scheelen Mienen auf der Probe. -
Man zischelt von erkauftem Zeitungslobe
Und von perfid erjagtem Gönnertum.

Die eben von der Schauspielschule kam,
Verehrt allein in ihm den Herrn und Meister
Und lächelt hold ihn an und wundersam.

Die übersieht er ganz. Nur seine Frau
Vergeht in Eifersucht ob solcher dreister
Schamlosigkeit (sagt sie) und schlägt Radau.


 

Die Frau des Regisseurs


Sie kann die Hut der Heimat nie vergessen:
Dies Bürgerliche, das in Formen bannte,
Den Tugendkodex ihrer Gouvernante,
Die Sicherheit der nie versäumten Messen.

Sie denkt gerührt der Zeit, die noch nicht kannte
Dies freie Blickeflackern und den kessen,
Verruchten Ton der Bühnenweltprinzessen,
Da keine Eifersucht ihr Herz verbrannte.

Am Abend sitzt sie lauernd im Parkett,
Und jede Zärtlichkeit, die ihr Gemahl
Im Spiel verschenken muß, wird ihr zur Qual.

Dann zwingt sie sich, den Kritiker kokett
Zu locken: »Gib dem Gatten Ruhm und Glanz!
Ich wär so gern die Frau des großen Manns!«


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